Bittermann gibt den Ton an Nº12 – Der Marianengraben
Simon Bittermann hat ein Gehör für gute Noten. Der Journalist und Musikkritiker ist auch Musikalienhändler beim «Notenpunkt», wo er das Sortiment und den Einkauf verantwortet. Für die BKa hört er schon mal vor, welche Klassiker bald in Berns Konzertsälen ertönen. Zum Beispiel Schuberts tiefgründiges Streichquintett in C-Dur, D 956.
Als ich das Programm der Musikfestwoche Meiringen studierte, stolperte ich gleich doppelt. Das Festival unter dem Motto «Now» wird mit einem der späten Streichquartette Beethovens eröffnet! Aber mit welchem? Denn das angekündigte Es-Dur-Quartett, op. 131, existiert nicht. Es gibt entweder das Quartett in Es-Dur, op. 127, oder das berühmt-berüchtigte cis-Moll-Quartett, op. 131. Eigentlich ist die Frage ja gar nicht so wichtig, denn die fünf Streichquartette des reifen Beethoven bilden zusammen sowieso so etwas wie den Mount Everest der Musik und lohnen sich immer. Aber für meine Kolumne muss ich halt schon wissen, worüber ich schreiben soll.
Zu faul, den Umstand zu klären, sah ich mich weiter im Programm um und fand etliche Trouvaillen: ein Konzert mit Werken von Berg und Webern etwa, oder Bohuslav Martinůs famose Suite «La revue de cuisine». Alles schön und gut, grandios gar, ich wollte aber nicht über den Mont Blanc schreiben, sondern suchte eine Alternative für den Everest, Top of the World! Fündig wurde ich dann nicht in luftigen Höhen, sondern in den Tiefen des Meeres. Gleich einen Tag nach Beethoven erklingt Schuberts letztes vollendetes Kammermusikwerk, das Streichquintett in C-Dur D 956. «Augenblick verweile doch» nennt sich das Konzert. Es spielt das in Zürich basierte, international renommierte Merel Quartett – dieses Jahr mit dem Goldenen Bogen der Geigenbauschule Brienz ausgezeichnet. Der Fünfte im Bunde ist Cellist Patrick Demenga, der Festivalleiter persönlich.
Doch zurück zu Schuberts gewichtigem Streichquintett: Ebenfalls ein Spätwerk, soweit man das bei einem 31-Jährigen überhaupt sagen kann, ungefähr zur selben Zeit wie Beethovens Pentalogie entstanden. Und ebenso extraordinär. Nur halt ganz anders, der Marianengraben eben, die tiefste Stelle der Weltmeere!
Während andere Zeitgenossen und Nachfolger an Beethovens übermächtigem Vorbild verzweifelten, rappelte sich der Wiener Lehrerssohn Schubert nach kurzer Krise auf und entwarf selbstbewusst eine Alternative zur Beethov'schen Logik des Durchdeklinierens. Ausschweifung statt knappest möglicher Formulierung, ungewöhnliche Tonartendispositionen und über allem das Ideal des Singens. Eine erstaunliche und rasant fortschreitende Entwicklung, die sich in den zwei Jahren vor seinem Tod nochmals beschleunigte und den Künstler Schubert eine neue Stufe ungeahnten Ausdruckswillens erreichen liess. Insofern ist der Begriff «Spätwerk» also durchaus berechtigt.
Die enorme emotionale Wirkung seiner letzten Werke verdankt sich der Verbindung zweier Eigenschaften, die unvereinbar scheinen: Extrovertiertheit und Innerlichkeit. Wie diese zusammengehen, zeigt Schubert etwa im lyrischen Seitenthema des ersten Satzes des Streichquintetts. Die Melodie schwingt weit aus, scheint über dem restlichen Geschehen zu schweben und bewegt sich dennoch nur innerhalb einer einzigen Oktave, ja kreist beinahe obsessiv um den Zentralton G. Diesem wird jedoch bei jedem Erklingen eine andere harmonische Funktion zugewiesen, was ihm Tiefe verleiht und den Eindruck von Weiträumigkeit erzeugt. Das pure Gegenteil von Beethovens Kunst der Verdichtung.
Einer, der unter anderem auch dank Schubert seinen Beethoven-Komplex überwinden konnte, war Johannes Brahms. Von ihm erklingt im selben Konzert das ebenfalls gegen Ende des Lebens entstandene Klarinettenquintett in h-Moll, op. 115. An der Klarinette zaubert Florent Héau. Ein unglaublich dicht gewobenes Stück, das niemanden kaltlässt. «Abschied von der schönen Welt» nannte es der Brahms-Freund Max Kalbeck und traf damit den Nagel auf den Kopf.
// Michaelskirche Meiringen und Umgebung. Fr., 4., bis Sa., 12.7.
- «Augenblick verweile doch»: Michaelskirche. Sa., 5.7., 19.30 Uhr
www.musikfestwoche-meiringen.ch