Bittermann gibt den Ton an Nº22 – Das Meisterwerk
Simon Bittermann hat ein Gehör für gute Noten. Der Journalist und Musikkritiker ist auch Musikalienhändler beim «Notenpunkt», wo er das Sortiment und den Einkauf verantwortet. Für die BKa hört er schon mal vor, welche Klassiker bald in Berns Konzertsälen ertönen. Zum Beispiel Bachs Weihnachtsoratorium.
Wer diesen Konzerttipp regelmässig liest, wird merken, dass manche Namen öfter vorkommen. Das liegt nicht (nur) an mir, vielmehr sind dies halt die Komponist*innen, deren Musik immer wieder auf den Konzertprogrammen auftauchen – eine Folge des Genie-Kults, über den ich mich anderswo auch schon mokiert habe. Wobei, mich stört nicht, dass all diese Sachen gespielt werden, im Gegenteil. Ich bedaure vielmehr, was alles nicht gespielt wird. Und bin der Meinung, dass uns die Transzendierung künstlerischer Begabungen ins Übermenschliche beim Verständnis ihrer Werke eher behindern. Auch der Götterliebling Mozart hatte eine bevorzugte Klopapiermarke.
Und was für die «Genies» gilt, trifft in noch stärkerem Mass auf ihre Arbeit und ihre Produkte zu. «Meisterwerke» nennen wir sie und vergessen dabei oft, dass die Stimmigkeit und die Perfektion, die wir an ihnen so bewundern, für ihre Produzent*innen keineswegs so klar auf der Hand lag wie für uns heute. Musik besteht aus vielen klanglichen Einzelereignissen, die zusammengeführt werden müssen. Je unterschiedlicher dabei die einzelnen Elemente sind, desto schwieriger wird ihre Komposition, aber umso reicher auch das Ergebnis. Komponieren war und ist ein Balanceakt – auch für die Grössten – und diesen nachvollziehen zu versuchen vertieft nicht nur das Verständnis, sondern auch die Verehrung.
Und den Respekt: denn Musiker*innen sind Schwerarbeiter, und die Kapellmeister und Kantoren des 17. und 18. Jahrhunderts waren gar Schwerstarbeiter. Keine Ahnung, wie Johann Sebastian Bach es schaffte, allen seinen Verpflichtungen nachzukommen und im Wochentakt zu liefern. Zwar, ein bisschen weiss ichs schon. Nehmen wir aus gegebenem Anlass zum Beispiel das Weihnachtsoratorium. Laut einer Umfrage des Bayrischen Rundfunks das beliebteste Chorwerk des Repertoires! Diese Abfolge kunstvoller Arien, erzählender Rezitative, feierlicher Chöre und schlichter Choräle passt perfekt zur Weihnachtszeit, verbindet Fest, Besinnung und zarte Töne mit Pauken und Trompeten.
Doch wenn Sie im Konzert sitzen, die Pauken mit «jam da da da da dam dam» beginnen und die einsetzenden Trompeten innert Sekunden Weihnachtsstimmung verbreiten, dann denken sie daran (oder vielleicht auch erst etwas später): Der Eröffnungschor «Jauchzet, frohlocket» entstammt ursprünglich einer weltlichen Kantate zu Ehren Maria Josephas, der Kurfürstin von Sachsen und Königin Polens und lautete «Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten!» Und das ist bei weitem nicht alles. Das ganze Werk zehrt von älterer Musik, vorwiegend weltlicher!
Es ist schier unbegreiflich, wie Bach alte und neue Stücke nahm, so umtextete und arrangierte, dass daraus etwas Eigenes entstand, das so wirkt, als sei es nur für diesen Anlass geschrieben. Und wenn nun zur Adventszeit das Vokalensemble Ardent im Konzert lediglich vier der insgesamt sechs Kantaten erklingen lässt, aus denen das Weihnachtsoratorium besteht, ist das nur logisch. Bach selbst hat sie an sechs verschiedenen Tagen aufgeführt. Was als geschlossenes Werk wirkt, war nicht mal so gedacht. Ein Meisterwerk eben!
Aber eigentlich ist das unwichtig. Was das Weihnachtsoratorium – oder jedes andere grossartige Stück – zum Meisterwerk macht, ist etwas ganz anderes. Gemeinsam mit dem Vokalensemble Ardent tritt ein Solist*innenquartett auf, jung allesamt, aber auch bereits mehrfach ausgezeichnet und auf grossen Bühnen präsent: Chelsea Zurflüh, Désirée Mori, Raphael Höhn und Felix Gygli. Eine neue Generation bemächtigt sich mit Enthusiasmus dieser Musik und trägt sie weiter. Das macht Meisterwerke aus: die Eigenschaft, über Jahrzehnte und -hunderte hinweg immer wieder Menschen von neuem zu begeistern und zu fesseln!
// Französische Kirche, Bern. Sa., 6.12., 19.30 Uhr
// Reformierte Kirche, Amsoldingen. So., 7.12., 17 Uhr