Bittermann gibt den Ton an Nº9 – lieber ein Weinberg als ein Glass
Simon Bittermann hat ein Gehör für gute Noten. Der Journalist und Musikkritiker ist auch Musikalienhändler beim «Notenpunkt», wo er das Sortiment und den Einkauf verantwortet. Für die BKa hört er schon mal vor, welche Klassiker bald in Berns Konzertsälen ertönen. Zum Beispiel Mieczysław Weinbergs Stimmungskosmos.
Es hat sich sicherlich schon so manche*r gefragt, weshalb ich ausgerechnet über dieses statt über jenes Konzert schreibe. Die Gründe sind natürlich unterschiedlich. Nehmen wir zum Beispiel das Programm «Adieu et retour» des Sinfonieorchesters Biel Solothurn unter der Leitung von Anna Sułkowska-Migoń. Es handelt sich dabei um eine mehr oder weniger klassische Werkfolge, wie sie im 19. Jahrhundert normiert wurde: Eine Ouvertüre, ein Solokonzert und nach der Pause die grosse Sinfonie. Nichts Weltbewegendes. Und ob die Kombination dieser drei Elemente funktioniert, was ja eigentlich die entscheidende Frage ist, lässt sich zumeist erst im Nachhinein beurteilen.
Ich habe «Adieu et retour» aufgrund eines der drei Werke ins Auge gefasst. Um etwas gleich klarzustellen: Der Ouvertüre wegen würde ich vom Konzertbesuch eigentlich abraten: «Company» von Philip Glass. Mit der Minimal Music des amerikanischen Komponisten man mich foltern. Die ewigen Wiederholungen in der Musik des erstaunlich populären Zeitgenossen lösen in mir ähnliche Gefühle aus, wie ich sie in der Schule beim Pauken von Vokabeln hatte. Doch das Eröffnungsstück geht vorbei, und später geht die Sonne auf – also quasi durchs Dunkel zum Licht!
Dann also Louise Farrencs 2. Sinfonie Op. 35? Sich für mehr oder weniger vergessene Komponistinnen einzusetzen, ist eigentlich immer eine gute Sache. Zu lange wurde der nicht-männlich gelesenen Bevölkerung die Möglichkeit verwehrt, sich künstlerisch auf professionellem Niveau zu betätigen. Und Farrencs 1845 entstandenes Op. 35, das sich an Beethovens 2. Sinfonie abarbeitet, ist ein tolles Stück, das es zu entdecken lohnt.
Was mir aber augenblicklich ins Auge gestochen ist, ist das 1. Flötenkonzert Op. 75 des jüdischen Komponisten Mieczysław Weinberg, dessen Name bis vor wenigen Jahren nur Eingeweihte kannten. Als Überlebender des Naziterrors von Polen in die Sowjetunion geflüchtet, geriet er dort in die Mühlen des Stalinismus. Hilfe und Bedrohung zugleich war dabei Weinbergs Nähe zu seinem Mentor und Freund Dimitri Schostakowitsch – bei der Geheimpolizei war er als einer von den «kleinen Schostakowitschen» bekannt.
Ein doppelt gefährliches Verdikt, politisch und künstlerisch, wird Weinberg doch häufig als blosser Epigone abgekanzelt. Nichts könnte unrichtiger sein. Seine Musik ist trotz mancher Berührungspunkte viel zugänglicher, melodischer, und kommt trotz häufiger herbstlich-düsterer Passagen nicht so pessimistisch daher wie die von Schostakowitsch. Gerade das wunderschöne, spritzig leichte erste Flötenkonzert verrät wenig bis nichts von den schwierigen Zeiten seiner Entstehung. Einzig der langsame Mittelsatz durchbricht mit seiner rätselhaften, an jüdische Musik gemahnenden Melancholie die Unbeschwertheit. Die Solistin Polina Peskina wird ihr ganzes Können aufbieten müssen, um diesem faszinierenden Stimmungskosmos gerecht zu werden.