Das intime Protokoll
Was bleibt, wenn plötzlich eine geliebte Freundin stirbt? Anna Sterns Roman «das alles hier, jetzt» ist eine leise und poetische Trauerchronik.
«ananke stribt an einem Montag im winter» – so beginnt Anna Sterns Roman «das alles hier, jetzt», für den sie 2020 den Schweizer Buchpreis erhielt. Was folgt, ist die schmerzlich schöne Trauerbewältigung einer Freundesgruppe, die eine Freundin früh verliert. Es ist eine Trauer, die nicht laut ist, sondern leise in den Leben der Verbliebenen nachhallt. Der Text verfährt doppelspurig. Auf der linken Spalte, in schwarzen Buchstaben, die Gegenwart, die wie ein schockstarrer Raum anmutet. Auf der rechten Spalte, in grauen Buchstaben, die Vergangenheit, die aus anekdotischen Erinnerungen besteht. Die Spalten verlaufen nicht chronologisch, sondern folgen der inneren, bruchstückhaften Logik der Trauer. Viele Abschnitte sind kurz und poetisch eindringlich, erinnern von der Form her an Prosagedichte oder an ein intimes Protokoll. Aus diesem Mosaik entsteht nach und nach das Bild einer Kindheit und Jugend in einer ländlichen Umgebung, die die Freunde teilten. Sehnsüchte, fragmentarische Assoziationen und das Aufbegehren gegen die Vergänglichkeit prägen den Roman. Stern verzichtet auf Grossschreibung, Geschlechtszuordnungen und äussere personelle Beschreibungen. Dadurch entsteht eine irritierende und abstrakte Distanz zu den Romanfiguren, zugleich aber auch Nähe. Mit seinem konsequent angesprochenen du, der beeindruckenden poetischen Sprache und dem spürbaren Schmerz hat mich dieser Roman tief berührt. «das alles hier, jetzt» ist auch im Taschenbuchformat keine leichte Sommerlektüre. Eher eine, die wehmütig nachhallt.
