Die Frau mit den Plänen
Im Kabinett des Museum Franz Gertsch gibt es kartografische Papierarbeiten von Esther Ernst zu entdecken – eine humorvolle Archivarin, begnadete Weglasserin und genaue Beobachterin.
«Nach 22 Uhr laufen die Schäferhunde Fanny und Hektor frei auf dem Gelände herum»: Diesen Satz hat Esther Ernst mit Bleistift auf ihrer sieben Meter langen Papierarbeit «Grande Büfe» – zu Deutsch «Grosses Büffet» – geschrieben. Das Werk ist während eines viermonatigen Aufenthalts im Istanbuler Stadtteil Tarabya entstanden, den die Zeichnerin dort gemeinsam mit weiteren Kunstschaffenden in einer Kunstakademie auf dem Gelände des deutschen Konsulats verbracht hat. Daneben liegt Erdoğans Sommerresidenz: «Das war absurd», erinnert sich Ernst.
Zeichnen, schreiben, sammeln
Gespräche, die die in Basel geborene und zwischen Berlin und Solothurn pendelnde Künstlerin in Tarabya führte, Beobachtungen, die sie aus ihrem Fenster heraus machte und Eindrücke in den Strassen Istanbuls wanderten auf «Grande Büfe». Da findet sich etwa ein Beschrieb, wo es Tampons zu kaufen gibt und die Frage, warum auf den Packungen ein Lippenstift abgebildet sei. Daneben eine Farbstiftzeichnung einer Parkanlage. In Ernsts Zeichnungen treffen Detailtreue auf grosszügige Weglassung und feiner Humor auf nachdenkliche Ernsthaftigkeit.
Ihre Herangehensweise in der Kunst ist meist eine persönliche: Worüber sie sinniert, was ihr auffällt oder was sich vor ihren Augen abspielt, hält sie in Notizen, flüchtigen Skizzen, analytischen Zeichnungen oder beeindruckend detaillierten kartografischen Plänen fest. «Das Papier ist meine Bühne, auf der sich alles zuträgt», so Ernst. Und: «Ich behaupte gerne, dass ich in der Lage bin, alles zu zeichnen.» Auch die Wände des Kabinetts tragen ihre «Verzeichnungen» (und so heisst auch die Ausstellung). Der Vergleich mit der Bühne wirkt zutreffend.
«Wer radiert, verliert»
Ernsts Eltern arbeiteten als Musikschaffende am Theater. Die Welt hinter dem Vorhang sei ihr als Kind sehr vertraut gewesen und habe sie fasziniert, erzählt sie. Sie studierte Kunst- und Bühnenbild in Zürich, Basel, Hamburg und in Berlin, wo sie letztendlich «kleben» blieb.
Doch schliesslich sagt sie: «Zeichnen kann ich überall. In der Stadt, in den Alpen, im Zug.» Gerade bei kartografischen Arbeiten geschieht dies oft «en plein air». Dann faltet Ernst ihre Karten zusammen und bearbeitet sie unterwegs. Das kann man sich gut vorstellen bei der Betrachtung der «Frankfurter Flanierkarte», einer grossformatigen Zeichnung zur Grossstadt Frankfurt am Main. Oder von «dobe luftets», einer Wanderkarte von Mürren, die es ebenfalls in der Ausstellung «Verzeichnungen» zu sehen gibt.
Es komme bei ihren Arbeiten oft vor, dass das Gezeichnete oder Geschriebene nicht makellos sei oder eine Richtung annehme, die ihr so nicht vorschwebte. Daher rühre nicht zuletzt auch der Ausstellungstitel «Verzeichnungen». «Papier ist extrem ehrlich», findet Ernst. Beim Malen gehöre das Überlagern dazu: «Ich will mich aber zeigen». Wer radiere, verliere, das sei ihr Motto. «Damit schaffe ich mir einen angstfreien Raum, denn ich weiss, die Zeichnung wird bleiben, auch wenn sie nicht meinen Vorstellungen entspricht. Das befreit», sagt sie.
Kein Tag ohne Zeichnung
Seit 20 Jahren führt Ernst eine Art gezeichnetes Tagebuch, das sich mit jedem Tag um eine Zeichnung erweitert. Auch da sind Nachbesserungen tabu. Bereits zu Studienzeiten begann die Künstlerin ihr Langzeitprojekt «wo ich war». Sie habe sich nicht so gut merken können, welche Kunstschaffenden an welchen Orten ausstellten, erklärt sie.
Ab 2004 machte sie sich deshalb mit der Schreibmaschine, später mit dem Computer für jeden Ausstellungs-, Theater- oder Vernissagenbesuch einen Karteieintrag, auf dem sie ihre Eindrücke zusammenfasste. Und mit einer Fotografie ergänzte. Unterdessen beherbergt die Sammlung rund 1200 Karten. Berlinbezogene Beiträge werden regelmässig im Kunstmagazin «vonhundert» publiziert, aber auch im Museum Franz Gertsch gibts Einblicke in Ernsts Archiv.
Die dürften längst nicht nur für die Besucher*innen interessant sein. Für sie selbst ist die Kartei zum Mittel der Selbstbeobachtung geworden: «Künstler*innen, die ich am Anfang richtig toll fand, konnte ich vielleicht an einem gewissen Punkt nicht mehr sehen. Und dann plötzlich mag ich ihre Werke wieder.» Bei einem Langzeitprojekt schreibe man sich und die Zeit mit. Die Kartei enthalte auch viele «Schimpfmeinungen», die mehr über sie aussagen würden als über die Kunst, die sie betrachte.
Und was macht es mit einem zu wissen, dass man nach jedem Ausstellungsbesuch etwas schreiben wird? «Manchmal fühlt es sich schon an wie ‹Ufzgi›», gesteht Ernst. Aber das sei letztendlich gut, denn sie schreibe und zeichne in jeder Emotion, egal ob sie «verführt, sauer oder gelangweilt» sei. Interessanterweise würden sowohl die Zeichnungen als auch die Texte nicht schlechter werden, wenn sie keine Lust darauf hatte. Damit befreit die Zeichnerin von der gängigen Vorstellung, es sei notwendig, von Inspiration übermannt zu werden, um Beeindruckendes zu erschaffen.