Doppelter Sonntag
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Doppelter Sonntag

Kunst Ausstellungen & Kulturerbe
Veröffentlicht am 01.09.2025
Susanne Leuenberger
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Mit Kirchner x Kirchner zeigt das Kunstmuseum Bern eine grosse Retrospektive des Künstlers – aus Sicht von Ernst Ludwig Kirchner selbst. Die spektakulärste Leihgabe: Kirchners grossformatiger «Sonntag der Bergbauern», der seit 50 Jahren im Kabinettsaal des Deutschen Bundeskanzleramts hängt. Ein Gespräch mit Kuratorin Nadine Franci.

Nadine Franci, Ihre Ausstellung bringt Werke zusammen, die Ernst Ludwig Kirchner 1933 in der Kunsthalle Bern selbst zeigte. Auch Kirchners «Sonntag der Bergbauern» kehrt erstmals nach Bern zurück und wird Seite an Seite mit seinem Pendant, dem «Alpsonntag» zu sehen sein. Was hätten Sie getan, wenn vom Kanzleramt ein Nein gekommen wäre?

Nadine Franci: Wir wussten, dass der «Sonntag der Bergbauern» eigentlich nicht ausgeliehen wird. Es war ja auch eine ziemliche Sache, das riesige Bild überhaupt aus dem Kabinettsaal zu bringen. Aber das Bundeskanzleramt fand unser Projekt unterstützenswert. Es ist eine Ehre, dass das Kunstmuseum Bern die beiden Bilder nach 92 Jahren wieder nebeneinander zeigen kann. Ich freue mich sehr darauf. Es wird auch für mich das erste Mal sein, dass ich das Bild in echt zu sehen bekomme. Ein Mitarbeiter des Museums, der in Berlin beim Verpacken mit dabei war, meinte zu mir: Die Wucht der Farben und Formen wird dich umhauen.

Das ikonische Bild gelangte über den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt in den Kabinettsaal. Warum Kirchner?

Für ihn war es ein Akt der Wiedergutmachung gegenüber der Diffamierung Kirchners und anderer expressionistischer Künstler*innen durch die Nationalsozialisten. Dass es seit 50 Jahren im Kabinettsaal hängt, hat grosse Symbolkraft. Schliesslich haben Kirchners «Bergbauern» auch die Wiedervereinigung und den Umzug von Bonn nach Berlin mitgemacht.

Sie zeigen 62 wichtige Werke, die teils selten in der Schweiz zu sehen sind. Wie nah bleiben Sie in Ihrer eigenen Kuration an der historischen Schau von 1933?

Ich orientiere mich daran, einen ästhetischen Eindruck der damaligen Ausstellung zu vermitteln. Ein exaktes Reenactment ist aber nicht mein Ziel. Mir geht es darum, Kirchner als Kurator seiner selbst zu begreifen. Er hatte die Ausstellung ja gemeinsam mit dem damaligen Leiter der Kunsthalle und späteren Direktor des Berner Kunstmuseums, Max Huggler, konzipiert. Genau das macht diese historische Schau so spannend: Sie erlaubt uns, Kirchner so zu sehen, wie er sich selbst sah – und zeigt zugleich, wie dieses Selbstbild konstruiert ist.

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Transport aus dem Kanzleramt: Der «Sonntag der Bergbauern» macht sich auf den Weg. © art/beats Felix von Boehm

Kirchner hat in der Kunsthalle-Ausstellung nicht nur seine eigene Retrospektive kuratiert, sondern auch den Katalog und das Ausstellungsplakat selbst gestaltet. Das ist unüblich und zeugt von seinem Willen zur Selbstinszenierung.

Kirchner hatte sicher einen starken Hang, sein eigenes Image zu kontrollieren, davon zeugen auch seine privaten Schriften. Wir müssen uns aber auch vergegenwärtigen, dass er sich 1933 als Künstler in einer ungewissen Lage befand: Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten verlor er seinen wichtigsten Markt, und viele Werke verschwanden aus den Ausstellungssälen. Umso mehr war ihm daran gelegen, sich neu zu positionieren und sein Bild in der Kunstwelt aktiv zu gestalten.

«Es wird auch für mich das erste Mal sein, dass ich das Bild in echt zu sehen bekomme. Ein Mitarbeiter des Museums, der in Berlin beim Verpacken mit dabei war, meinte zu mir: ‹Die Wucht der Farben und Formen wird dich umhauen.›»
— Nadine Franci, Kuratorin

Und wer war dieser Kirchner, den Kirchner 1933 selbst schuf?

Kirchner wollte sich als Künstler präsentieren, der sich formal weiterentwickelt hatte – was unsere Ausstellung deutlich macht: Ab 1925 vereinfachen sich seine Formen, er sucht neue Wege, Bewegung darzustellen und setzt sich mit anderen modernen Stilen auseinander. Die nervösen Pinselstriche der Berliner Jahre weichen satten Flächen und mutigen Farbzusammenstellungen. Mit seinen Aktdarstellungen verstand er sich in der Nachfolge Albrecht Dürers, den er als grossen deutschen Maler bewunderte, und in seinen Davoser Landschaften präsentierte er sich zugleich als Erneuerer der Schweizer Landschaftsmalerei auf Hodlers Spuren.

Sein Gestaltungswille ging so weit, dass er einige seiner früheren Werke im Hinblick auf die Kunsthalle-Ausstellung überarbeitete. Finden Sie das als Kuratorin nicht problematisch?

Nicht unbedingt. In Davos hatte er viele Werke über längere Zeit vor Augen – sein Blick auf sie veränderte sich. Kirchner war zudem extrem selbstkritisch. In seinem Tagebuch notierte er einmal, er habe zu Beginn Jahre gehabt, in denen er nur erste Fassungen hervorbrachte. Ich nehme es Kirchner durchaus ab, dass er seine Arbeiten einfach immer wieder neu betrachtete. Für ihn war Kunst etwas, das im Dialog mit der Gegenwart steht und sich entsprechend wandelt.

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Ein später Kirchner: Esser, 1930. © Galerie Henze & Ketterer, Wichtrach/Bern

War Kirchners Ausstellung in Bern eigentlich ein Erfolg?

Ja und Nein. Mit 1105 Besucher*innen war sie nicht sehr gut besucht. Ernst Kreidolfs Schau lockte im selben Jahr 13'900 Menschen in die Kunsthalle. Dass Kirchner zwölf Werke verkaufen konnte, war dagegen ein Erfolg. Besonders bedeutend war der Ankauf des «Alpsonntag» durch das Kunstmuseum Bern. Es ist das einzige Gemälde, das zu Kirchners Lebzeiten von einem Schweizer Museum erworben wurde. Vor dem Hintergrund, dass er kurz vor seinem Suizid 1938 begann, eigene Werke aus Angst vor den Nationalsozialisten zu zerstören, ist dieser Ankauf umso gewichtiger.

Kommen wir auf Ihre Ausstellung zurück: Wie steht Ihre eigene Anordnung der Bilder zu jener von Kirchner selbst?

Kirchner gruppierte seine Werke rhythmisch und hing sie oft dicht nebeneinander, um den Eindruck einer Wandgestaltung zu erzeugen – das einzelne Bild stand dabei weniger im Vordergrund. Ich habe mich für eine Hängung entschieden, die mit Hell-Dunkel-Kontrasten spielt und Werke kombiniert, in denen bestimmte Farbtöne wiederkehren. So entsteht eine sinnlich-organische Verbindung, die ich das «Konzept der springenden Farbe» nenne. Wie 1933 sorgen zudem Durchblicke von einem Raum in den nächsten dafür, dass frühe und späte Arbeiten miteinander in Beziehung treten.

Denken Sie, Kirchner würde die Ausstellung mögen?

Wenn es uns gelingt, Kirchner als Künstler zu zeigen, der mit der Zeit ging, würde er sie wohl gutheissen. In Deutschland gilt Kirchner vielen noch immer als Brücke-Künstler mit Kokotten und Strassenszenen, in der Schweiz als Maler der Davoser Landschaften. Sein Spätwerk, das er selbst als Höhepunkt sah, ist dagegen kaum bekannt. Seine eigene Ausstellung in der Kunsthalle änderte daran wenig. Jetzt bekommt Kirchner quasi eine zweite Chance.

// Kunstmuseum Bern

Vernissage: Do., 11.9., 18.30 Uhr

Ausstellung bis 11.1.2026

www.kunstmuseumbern.ch

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Susanne Leuenberger
Susanne Leuenberger
Redaktionsleiterin

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