Ein Gespür für Grönland
 Minuten Lesedauer

Ein Gespür für Grönland

Ausstellungen & Kulturerbe
Veröffentlicht am 18.10.2024
Susanne Leuenberger
 Minuten Lesedauer

Mit der Ausstellung «Grönland. Alles wird anders» begibt sich das Alpine Museum der Schweiz ALPS an den nördlichsten Rand der Zivilisation – und trifft auf Menschen, Eisberge und Müllberge. Die Schau überrascht mit irritierend schönen Bildern.

Wie alle peripheren Zonen der Welt ist Grönland von hier aus gesehen weit weg – und vor allem Kopfkino. Inuit, Fjorde, schmelzendes Eis und die Eisbären und Wale, die darüber, dazwischen und darunter leben, fallen ein. Das ALPS-Ausstellungsteam rund um Museumsdirektor Beat Hächler reiste wirklich hin und verbrachte insgesamt zehn Wochen in der spärlich besiedelten, dänischen Ex-Kolonie am Rande der Arktis. Das Grönland, dem sie dort begegneten und das sie in Form der Ausstellung «Grönland – alles wird anders» zurückbrachten, überrascht. Und beginnt auch gleich mit Bildbrüchen: Eine Wand voller Bildschirme empfängt mit Eisbergen, die einstürzen, Trump, der Grönland kaufen will, der Flughafenbaustelle von Ilulissat, die Zeuge sein lässt, wie eine Bergkuppe weggesprengt wird.

«Wir vertrauen Grönland»

«Wir versuchten, unsere eigenen Vorstellungen und Vorannahmen zu Hause zu lassen und möglichst ergebnisoffen zu dokumentieren, was wir antrafen», erklärt Beat Hächler das Vorgehen für die grossangelegte Schau, die sich über zwei Stockwerke erstreckt. Sich einfach ganz auf das Land einzulassen, das bewährte sich bereits in der viel beachteten Nordkorea-Ausstellung des ALPS, «Let’s Talk About Mountains», die dasselbe Ausstellungsteam 2021 realisierte.

«Wir vertrauen Grönland und lassen das Material sprechen.» 70 Interviews kamen zu Stande, 32 davon fanden Eingang in die Ausstellung, und von den 87 Stunden Filmmaterial, das die Ausstellungsmachenden sammelten, sind an die vier Stunden geblieben, die nun auf zahlreichen in der Ausstellung verteilten Bildschirmen laufen.

Image description
Spiderman trifft auf Eisberge in der Ausstellung «Grönland. Alles wird anders». © Gian Suhner

Mit einem Blick von hier aus beginnt der eigentliche Rundgang: Im ersten der insgesamt acht thematischen Ausstellungsräume erhoffen sich Klimaforscher*innen aus Bern von Eisbohrkernen, die sie aus Grönlands Eismassen gewinnen, einen Blick in die Vergangenheit – und in die klimatische Zukunft. «Was man von Grönland lernt, ist von globaler Bedeutung», meint Umweltphysiker Thomas Stocker dazu, und eine Doktorandin schwärmt von der Schönheit des von Schmutz und Altersspuren durchzogenen Eises.

Er sitzt auf dem Felsen und träumt

Das Eis hinter sich lassen, das hingegen will der jugendliche Atsiannuaq Olsen im darauffolgenden Raum, der ins Alltagsleben von Grönland führt. «Nothing to do here», meint er über sein Dorf Kullorsuaq in Westgrönland. Weniger als 500 Menschen leben hier noch, man lebt vom Fischen. Oder lebte. Seit die Jagd auf Narwale von der Regierung reguliert wurde, hat sich auch das Fischerleben verändert: Der Schnellere ist der Geschwindere, das Kajak wird zunehmend mit dem Motorboot ersetzt.

Und der junge Atsiannuaq, der für das ALPS-Team auch zwischen Englisch und Kalaallisut, der Landessprache der Inuit, übersetzte, wie geht es ihm hier? Er sitzt auf dem Felsen und träumt von einer Musikerkarriere. Vielleicht wird er sein Dorf verlassen und sein Glück in Nuuk, der Hauptstadt Grönlands, suchen. Dort leben immerhin 20000 Menschen, dort gibt es eine Universität, eine Shoppingmall, ein Kunstmuseum und Konzertlokale.

Die Abfallberge leuchten im klirrenden Polarlicht mit den farbig getünchten Häusern um die Wette.

Jagdregulierungen, Motorboote und Abwanderung, weil es nichts mehr zu tun gibt. Es sind Wirkungsketten wie diese, die die Ausstellung bildstark vor Augen führt: Prozesse der Modernisierung, der Globalisierung, der (neo)kolonialen Begehrlichkeiten, die Grönlands Bodenschätze erwecken. Donald Trump wollte gar schon mal Grönland kaufen und sich die seltenen Erden sichern. Da ist aber auch der Müll, der sich am Rande der Siedlung Kullorsuaq türmt: Es sind die Überreste von Importwaren aus aller Welt, die ihren Weg hierher finden – und als Mahnmal ihrer selbst liegen bleiben. Der Filmer Gian Suhner hat die Gegensätze und Widersprüche der grönländischen Realität in vieldeutigen und hochästhetischen Momentaufnahmen festgehalten. Die Abfallberge leuchten im klirrenden Polarlicht mit den farbig getünchten Häusern der Siedlung um die Wette.

Bizarres Detonationsspektakel

Während die Traditionen der Inuit der Moderne, dem Klimawandel und dem Rohstoffabbau weichen, kündet sich der Tourismus am arktischen Horizont an. Im wahrsten Sinne des Wortes. Das ALPS-Team begab sich zum Eisfjord der Küstenstadt Ilulissat im Westen Grönlands. Seit 2004 gehören die gigantischen, münsterhohen Eisberge, die hier in den Ozean gleiten, zum Unesco-Weltnaturerbe. Ab 2026 sollen in unmittelbarer Nähe Flugzeuge landen, welche Tourist*innen zum vom Klimawandel bedrohten Naturspektakel transportieren. Doch dazu muss erst noch eine Felsfront von 5,3 Millionen Kubikmeter gesprengt werden, die quer zur geplanten Landebahn liegt. «Wir verbrachten einen ganzen Tag auf der Baustelle und filmten die überwältigenden Explosionen.» Das bizarre Detonationsspektakel ist auf Grossleinwand mitzuverfolgen. Dieser «Klimatourismus» dürfte etwas sprachlos zurücklassen. Für viele Einheimische bedeutet er aber eine neue Einkommensquelle. Ganz zu schweigen von den Kreuzfahrtgesellschaften, Fluglinien und der Hotelindustrie, welche die Region für sich entdecken. Die Ausstellung lässt sie zu Wort kommen.

Image description
Oft ist in der Schau ein Augenzwinkern dabei: Mann mit Eisbärenhose. @ Gian Suhner

Einem Eisbären begegneten sie nie

Und doch gibt es auch Widerstand: In einem anderen Raum treffen etwa Mining-Unternehmer auf indigene Aktivist*innen, die sich gegen die invasive Landnahme zur Wehr setzen. Und da ist noch dieses Grönland der Inuit, das sich von der kolonialen Vergangenheit emanzipiert und nach der eigenen Identität sucht. Ein streitbarer Eisbär ist das nationale Wappentier. Selbst die offizielle elektronische Adresse der Regierung endet auf «nanoq» –  die Bezeichnung in Kalallisut für das weisse Raubtier.

Hat das Team denn unterwegs in Grönland einen Eisbären angetroffen? Nein, aber man habe ihm ein Gewehr in die Hand gedrückt, als sie in Qassiarsuk, im Süden Grönlands unterwegs gewesen seien, mein Beat Hächler. Denn das Tier sei eigentlich immer hungrig und angriffig.

Ein gutes Gespür für Grönland haben die Ausstellungsmacher*innen auch so zurückgebracht. Die Filme, die Bilder, die Menschen und die Positionen: Sie sprechen in der Ausstellung «Grönland. Alles wird anders» für sich. Deutungen werden keine angeboten, und die oft augenzwinkernde Kuration versucht gar nicht erst, Widersprüche zu glätten. Im Gegenteil, sie sind der Reiz.

Im kühlen Licht des hohen Nordens gewinnen so ziemlich alle Dilemmata der Gegenwart an Tiefenschärfe und Kontur. Grönland mag weit weg sein – und ist doch mitten im Weltgeschehen.

// ALPS – Alpines Museum der Schweiz, Bern

Ab Fr., 25.10. Ausstellung bis 16.8.2026

www.alps.museum

Artikel des/derselben Autor:in
Susanne Leuenberger
Susanne Leuenberger
Redaktionsleiterin

BKa abonnieren

Dieser und unzählige weitere Artikel sind auch in gedruckter Form erhältlich. Die Berner Kulturagenda erscheint zweiwöchentlich und beleuchtet das Berner Kulturgeschehen.