Ein roter Faden der Leidenschaft
Alles dreht sich an den Festwochen im Schloss Holligen um «Passione». Leiden und Leben reichen sich von sizilianischer Folklore bis hin zur ernsten und tiefen Malerei des verstorbenen Künstlers Egbert Moehsnang die Hand. Auch die Grande Dame des deutschen Autorenkinos, Hanna Schygulla, gibt dem Festival die Ehre.
Leben tut weh. Man könnte glatt im Schmerz und in der Angst verloren gehen. Oder man beherrscht die Kunst, die Verletzlichkeit zu feiern. Zum Beispiel mit einem Tross klagender Tuben, weinender Posaunen und wimmernder Trompeten, die von verhaltenen Pauken und scheppernden Becken in einer endlosen scheinenden Prozession vorangetrieben werden. 22 Stunden lang.
Jahr für Jahr, vom frühen Nachmittag des Karfreitags bis in die Mittagsstunden des folgenden Tages, bewegen sich an die 20 Blaskapellen im Wiegenschritt durch die blumengeschmückten Gassen der sizilianischen Küstenstadt Trapani. Sie folgen dem Leidensweg so lange, bis Trauer und Schmerz in Trance übergehen. Und bis aus dem Ende ein Neuanfang werden kann. Der Jazzmusiker Ben Jeger und der Filmemacher Clemens Klopfenstein haben die «Processione dei Misteri» im Jahr 2005 erlebt und in ihrem 63-minütigen Film ohne Bild «Tod Trauer Trapani» festgehalten.
Man muss wie Jeger und Klopfenstein vor Ort sein, um das Prozessionswunder mit allen Sinnen zu erleben. Und doch ziehen sich die «Misteri» als Tonspur durch die Festwochen im Schloss Holligen. Gleich achtmal wird «Tod Trauer Trapani» zu hören sein. Die Aufnahmen sind das Bindeglied des vierwöchigen Reigens der Künste, bei dem sich alles um «Passione» dreht. Leiden und Leidenschaften reichen sich auf der Konzertbühne, in den Ausstellungsräumen und auf der Kinoleinwand im Schloss beim Berner Loryplatz die Hand.
Italianità in Catania und im Emmental
Das kulturelle Gravitationszentrums des Festivals ist die Italianità. Die gibt es in Bild, Worten und Ton zu geniessen – und mit einem eigentlichen Star unter den italienischen Cantautori, Etta Scollo. Die sizilianische Musikerin, Komponistin und Sängerin lässt traditionelles Liedgut in ein intimes Verhältnis mit Soul, Jazz, Avantgarde-Pop und moderner Lyrik treten. Im Projekt «Canta Ro’» etwa erweckte sie 2005 die Musik der Volkssängerin Rosa Balistreri mit orchestraler Begleitung zu neuem Leben. Reduziert auf Gitarre und ihre Stimme ist ihr neuestes Album «Ora» von 2023.
Scollo, die in Catania aufwuchs und heute in Sizilien und Berlin lebt, trifft im Schloss Holligen für einen musikalisch-literarischen Abend auf Francesco Micieli. Der schweizerisch-italienische Schauspieler und Autor liest aus seiner Erzählung «Schwazzenbach», der von den Erinnerungen eines Einwandererkinds im Emmental der 1970er Jahre handelt. Das Aufwachsen dort verläuft nicht ohne Leiden am Fremdsein. Passion also auch hier ein Stichwort, ebenso in der Filmreihe «Cinema Italiano» im Schlosshof, die sich als Begleitprogramm anbietet.
Zu sehen ist etwa die Filmkomödie «Pane e cioccolata» von Franco Brusati aus dem Jahr 1974. Sie bringt die Widrigkeiten, denen ein Gastarbeiter in der Schweiz begegnete, auf die Leinwand. Kuratiert von Filmjournalist Thomas Pfister, bietet das Cinema aber auch ein Wiedersehen mit Pier Paolo Pasolinis kunstvollem «Il vangelo secondo Matteo» aus dem Jahr 1964.

«Schygulla-Fleisser-Specht-Scollo»
Doch zurück zu Etta Scollo, denn sie wird dem Publikum einen zweiten Abend schenken. Und das gemeinsam mit niemand Geringerem als Hanna Schygulla. Die grosse Dame des deutschen Autorenkinos, die in fast allen Filmen von Rainer Werner Fassbinder spielte, beehrt Bern.
Es ist die jahrelange Freundschaft, die Scollo mit der mittlerweile 80-jährigen Schygulla verbindet, die diesen Besuch möglich macht. Scollo bringt Schygulla quasi mit für eine Soirée à quatre, denn Schygulla liest Texte der Münchner Autorin Kerstin Specht über die Schriftstellerin und Bühnenautorin Marieluise Fleisser. Dazu muss man wissen: Schygulla verkörperte in der Fassbinder-Verfilmung «Pioniere in Ingolstadt» (1970) Fleissers Figur Berta. Etta Scollo sucht mit ihrer Stimme und Instrumenten die Klänge zu Schygulla, Specht und Fleisser.

Moehsnang mischte seine Farben selbst an
Auch eine Passion der leiseren Gesten findet im Schloss Holligen, auf dem Kornboden, Raum. Dies mit der Ausstellung von rund 20 grossformatigen Arbeiten des Malers, Kupferstechers, Glaskünstlers und Skulpteurs Egbert Moehsnang.
Es sind abstrakte Farbflächen, filigrane Gitter- und Netzlinien, die seine grossformatigen Bilder, seine Skizzen und die Stiche ausmachen. Mal schuf er flächig-monochrome Tableaus in kräftigen Farben, mal arbeitete er mit sich ins Weiss auflösenden Farbaufträgen, in der die Leere der Leinwand zwischen den federleichten Pinselstrichen durchschimmert. Moehsnang mischte seine Farben selbst an. Auch düstere fanden sich in seiner Palette, ebenso wie Gold.

Der Künstler mit der bayrischen Herkunft, der 2017 mit fast 90 Jahren verstarb, war in der Berner Kunstszene ein Dazugekommener. Und blieb zeitlebens ein Davongekommener – er entfloh seinen traumatischen Kriegserfahrungen in der deutschen Wehrmacht. Die letzten 40 Jahre verbrachte Moehsnang in einem alten Bauernhaus in Schüpfen, das ihm mit dem geräumigen Atelier unter dem Dach zum Schutzraum wurde.
Requiem für den Freund
Seine Arbeiten sind nicht ohne Pathos, und auch wenn er sich nicht als religiös bezeichnete, neigen sie in ihrer Ernsthaftigkeit zum Sakralen. Es verwundert nicht, dass seine Kunst auch Eingang in Kirchen fand. Er gestaltete etwa die Holzflügel der winddynamischen Orgel in der Stadtkirche Biel, vom Komponisten und Organisten Daniel Glaus entworfen. Auch Moehsnang und Glaus verband eine Freundschaft: Der langjährige Münsterorganist Glaus schrieb ein Requiem, ein Auftragswerk, um das ihn der verbundene Maler gebeten hatte. Uraufgeführt wurde «In hora mortis», ein Werk für Violine, Klavier und Cello, allerdings bereits 2015, zu Lebzeiten von Moehsnang.

Begleitend zur Bild-Ausstellung spielt das Streichtrio Trioraro aus Violinist Stefan Meier, Pianist Alexander Ruef und Cellist Matthias Kuhn das Totenwerk. Und beim Programm «Das unglaublich grüne Tor im Gelb des Sandsteins» setzt sich Daniel Glaus dann selbst an die winddynamische Orgel und ans Klavier, während Sprecherin Dorothée Reize dazu Textfragmente von Moehsnang liest. Die Tänzerin Anna Huber tritt hinzu und sucht anhand von Kunst, Text und Tönen nach Bewegungen.
Und so wird das Schloss Holligen in diesem August zur Passionsstätte, in der Kunst die Kraft hat, Schweigen in Ton, und Düsterkeit in Farbe und Form zu verwandeln. Und in der sich Künstler*innen aus allen Genres begegnen. Von Trapani über Bayern, Berlin und Schüpfen bis ins Holligerquartier verläuft dieser rote Faden. Seinen Abschluss findet der Passionsweg mit einer grossen Festa Italiana.
// Schloss Holligen, Bern
Fr., 2., bis Fr., 30.8.
- «Tod, Trauer, Trapani»: Fr., 2., Sa., 3., Do., 15., Fr., 26., Sa., 17., Sa., 24.8., 18 Uhr
- «Das unglaublich grüne Tor im Gelb des Sandsteins»: So., 4.8., 17 Uhr
- «Il vangelo secondo Matteo»: Mi., 14.8., 19.30 Uhr
- Scollo/Micieli: Do., 15.8., 20.15 Uhr
- «Marieluise. Ein Bericht» mit Schygulla/Scollo: Sa., 17.8., 20.15 Uhr
- «In hora mortis» mit Trioraro: So., 25.8., 17 Uhr
- «Pane e Cioccolata»: Mi., 28.8., 19.30 Uhr
- Festa Italiana: Fr., 30.8., 17 Uhr