Ein Serum für Empathie
Eine Vulkanologin trifft auf eine Welt, die in Einsamkeit und Gefühlskälte erstarrt: «Samota» nennt sich das surreale Märchen, mit dem die belarussische, im Exil lebende Schriftstellerin Volha Hapeyeva nach Solothurn kommt.
«Die Stadt verstummte.» Mit dieser Feststellung beginnt die literarische Erkundung einer Situation, in der sich auch die Erzählung selbst zu verflüchtigen droht. Zeiten, Zustände und Orte verrücken in «Samota», dem Roman der Lyrikerin, Autorin und Künstlerin Volha Hapeyeva, und das, ohne dass der Boden brodelt. Dabei ist die Erzählerin Maja ja eigentlich eine Vulkanforscherin. Sie bewohnt ein charakterloses Hotelzimmer in ebendieser verstummenden Stadt am Fuss eines Vulkans in Japan. Bei einer Kaffeepause begegnet sie der exzentrischen Helga-Maria, ihrem vielleicht nicht wirklichen, aber immerhin authentischen Gegenüber. Auch sie ist eine Reisende in der Stadt, doziert über Tierpsychologie an der Universität – und therapiert Hunde. Im Nebenjob verfasst sie aber auch die Prophezeiungen von Glückskeksen. Und gemeinsam mit der Ich-Figur versucht Helga-Maria, das Rätsel des seltsamen Weltschwunds zu ergründen. Wer sind etwa diese anderen Hotelgäste? Die Männer in Anzügen und ihre Chefin im Business-Kleid beschäftigen sich im Rahmen eines wissenschaftlichen Kongresses mit der Regulierung der lokalen Hundepopulation. Und dies nicht nur theoretisch: In der Stadt verschwinden die Möpse, Pinscher und Dackel. Auch eine Katze findet eines Tages ihren Weg als Tierpräparat zurück zur Besitzerin. Und wer ist Sebastian, dieser seltsame romantische Briefschreiber, der aus einer anderen Zeit zu kommen scheint?
Life Science gegen Lebensschwund
Volha Hapeyeva lässt eine Welt und die Erzählung darüber in Empathielosigkeit und Einsamkeit versinken, so, als würden alle belebten Dinge nach und nach erlöschen. Die Vulkanologin und Helga-Maria suchen nach Begegnung in einer Welt der Isolation, Vereinsamung und Gefühllosigkeit, in der grausame Wissenschaft und zweckbestimmte Ökonomie herrschen. So träumt Helga-Maria von einem Serum für Empathie – eine Life Science quasi, die eben nicht berechnet und selektiert.
Literarisch führt Volha Hapeyevas Nachvollzug eines Lebensschwunds, in der bloss die Unerzählbarkeit noch ein Hort für menschliche und tierische Berührung ist, zuweilen in die Irre. Das surreale Märchen fadet selbst etwas aus. Der Schönheit der notierten Gedanken kann das nichts anhaben. So lässt Hapeyeva ihre Erzählerin darüber sinnieren, dass sie fiktionale Prosa vermeidet, weil jede Erzählung eine weitere Parallelwelt erzeugt, in der sich die Wirklichkeit verflüchtigt und das Leben sich verpasst: «Mit der Lyrik war es anders, ihre Nicht-Narrativität ermöglichte eine Begegnung. Genau wie die Begegnungen mit Helga-Maria.»
«Samota» bezeichnet in der belarussischen Sprache Einsamkeit oder Stille. Es ist der zweite Roman der vielfach ausgezeichneten Autorin und Künstlerin, die als Nomadin zwischen Deutschland und Österreich lebt. Tina Wünschmann und Matthias Göritz haben das Buch aus dem Belarussischen ins Deutsche übersetzt. Für die Lesung besucht Hapeyeva, die seit einigen Jahren auch in deutscher Sprache schreibt, Solothurn.