«Erst in jüngster Zeit kenne ich Hänger»
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«Erst in jüngster Zeit kenne ich Hänger»

Bühne Theater
Veröffentlicht am 12.08.2024
Susanne Leuenberger
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Heidi Maria Glössner spielt im Theater an der Effingerstrasse unter der Regie von Jochen Strodthoff die Demenzkranke Marjorie und deren KI-Ebenbild. Mit der BKa spricht die vielbeschäftigte 81-jährige Schauspielerin über ihre Doppelrolle im Stück «Marjorie Prime», die Angst vor dem Vergessen und die Neugier auf künstliche Intelligenz.

Heidi Maria Glössner, in Ihrem neuesten Stück spielen Sie gleich zwei Rollen – zum einen die an Demenz erkrankte Marjorie, zum anderen ein KI-gesteuertes Ebenbild der Frau. Welche Figur ist schwieriger?

Ganz klar die der KI-Marjorie! Wie viel Emotion liegt drin? Wie spiele ich, dass es nicht eintönig und langweilig wird? Eine Figur, die nicht menschlich ist, das ist neu für mich. Ich habe den Eindruck, mich dafür ganz aushöhlen zu müssen.

Gehört es nicht zum Schauspiel dazu, sich immer wieder leer zu machen, um den Figuren Raum zu geben?

Ich glaube eher, dass wir nur spielen können, was in uns drin ist. In uns sind viele Schubladen, bloss öffnen wir viele unser Leben lang nicht, sie bleiben ungelebt. Auf der Bühne dürfen wir diese schlummernden Dinge hervorbringen.

Und wie holen Sie diese Charaktere aus sich heraus?

Indem ich mir vorstelle, wie sich die Figur im Körper fühlt. Ich versuche, sie bis in meine Fingerspitzen zu erspüren. Bis die Figuren in mir Gestalt annehmen. Sich ganz in diese unbekannten Eigenschaften hineinzugeben, ist befreiend. Besonders, wenn man auch seine diabolischen Seiten ausleben kann.

Denken Sie an eine bestimmte Rolle?

Ich erinnere mich gut an meine allererste böse Rolle. Da war ich gerade einmal in meiner zweiten Saison als Schauspielerin und spielte das Dienstmädchen Claire in Jean Jenets Stück «Die Zofen». Claire plant mit ihrer Schwester, die Hausherrin umzubringen. Wochenlang quälte ich mich damit, diesen Hass in mir zu finden. Als ich dann bei der Premiere auf der Bühne stand, spürte ich ein perverses Kribbeln…

Zurück zur KI-Figur von Marjorie. Spüren Sie die auch schon in den Händen?

Noch nicht, das dürfte schwierig werden. Marjories KI kennt ja das Innenleben, die Träume und Geheimnisse der echten Marjorie nicht. Sie kennt nur die Informationen, mit denen man sie füttert.

BERN - 03JULI24 - THEATER EFFINGER Spielzeit 2024/2025 

Marjorie Prime
Was von uns bleibt
von Jordan Harrison

Schweizer Erstaufführung

Jochen Strodthoff

Ausstattung
Angela Loewen

Spielerinnen
Tim Borys
Heidi Maria Glössner
Wowo Habdank
Kornelia Lüdorf

Premiere Samstag 24. August bis 20. September 2024

Bern, Mittwoch 3. Juli 2024.

© SEVERIN NOWACKI Fotograf BR Postfach CH-3001 Bern Switzerland +41 79 761 33 46 PC 30-455681-8 info@nowacki.ch www.nowacki.ch
In «Marjorie Prime» verkörpert Heidi Maria Glössner eine an Demenz erkrankte Frau – und ihre KI. An ihrer Seite spielen Tim Boris, Wowo Habdank und Kornelia Lüddorf mit (v.l.n.r.). © Severin Nowacki

In «Marjorie Prime» tauchen gleich mehrere dieser künstlichen Menschen auf. Sie sollen verstorbene Familienmitglieder ersetzen. Wie stehen Sie persönlich zu KI?

Ich bin auf der neugierigen Seite, aber es ist für mich fremdes Terrain. Letzte Woche passte ich auf meine Enkelinnen auf. Während ich mit anderem beschäftigt war, durften sie auf meinem Computer einen animierten Kinderfilm schauen. Plötzlich fielen die Worte «Keine Erdnussbutter». Exakt der Text aus meiner Rolle als Marjorie. Im Zeichentrickfilm sagt das ein Roboter, ein Spielkamerad der Kinder im Film. Meine Enkelinnen fanden eine sprechende KI schon ganz normal. In Japan sind Roboter ja bereits heute für Alte und Demenzkranke im Einsatz.

Fürchten Sie sich eigentlich davor, selbst Ihr Gedächtnis zu verlieren?

Wer nicht? Wie alle in meinem Alter kenne ich viele, die davon betroffen sind. Die Angst vor dem Kontrollverlust ist da. Gleichzeitig sage ich mir, dass ich ja seit 56 Jahren ununterbrochen neue Texte auswendig lerne – ein ziemliches Gedächtnistraining. So hoffe ich, dass mir das erspart bleibt.

«Ich erspüre die Figur bis in meine Fingerspitzen. Bis sie in mir Gestalt annimmt.»
— Heidi Maria Glössner über das Schauspielen

Sie wurden letztes Jahr 80 Jahre alt und spielen in unübersichtlich vielen Stücken. Wie schaffen Sie das?

Ich spiele eben gerne. Im September stehe ich abends täglich in Bern auf der Bühne, und tagsüber fahre ich für Proben nach St. Gallen. Aber solange mich die Theater anfragen und mir spannende Rollen anbieten, bin ich dabei. Es ist ein Geschenk.

Im aktuellen Stück geht es ums Vergessen, in Ihrem letzten Effingertheater-Stück «Der vergessene Prozess» spielten Sie unter anderem Odette Wyler, die Witwe des jüdischen Anwalts Georges Brunshvig, der in den 1930er-Jahren in Bern erfolgreich gegen die antisemitischen «Protokolle der Weisen von Zion» vor Gericht zog. Erinnerung und Vergessen: Grosse Themen.

Das kommt mit den Altersrollen. Auch der Tod ist präsent. Seit zwei Jahren spiele ich in Ferdinand von Schirachs «Gott» die sterbewillige Elisabeth Gärtner. Und auch in «Harald und Maude» beschliesst die lebensfreudige Maude, die ich 2021 im Theater an der Effingerstrasse verkörperte, an ihrem 80. Geburtstag, dass es Zeit ist zu gehen. Als ich selbst 80 wurde, stellte ich mir die Frage auch kurz. Aber mir geht es ja gut.

Haben Sie eigentlich auch schon mal einen Text auf der Bühne vergessen?

Bis jüngst eigentlich nie. In meiner langen Karriere passierte mir das bloss zweimal: Einmal im Stück «Die Physiker» und einmal in «Die Präsidentinnen». Erst in jüngster Zeit kenne ich diese sogenannten Hänger. Es begann im Schlachthaustheater-Stück «Ich komme». Zum Glück flüsterte mir Regisseurin Meret Matter die vergessenen Worte zu. Auch im «Vergessenen Prozess» hatte ich zu Beginn mit kleinen Sätzen Probleme. Da bekomme ich Panik! Lange Texte hingegen machen mir keine Mühe, die lerne ich nach wie vor schnell.

Verraten Sie uns einen Tipp, wie wir selbst ein fittes Gedächtnis behalten?

Büffeln Sie Texte.

// Theater an der Effingerstrasse, Bern

Premiere: Sa., 24.8., 20 Uhr. Vorstellungen bis 20.9.

www.theatereffinger.ch

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Susanne Leuenberger
Susanne Leuenberger
Redaktionsleiterin

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