Erwin geht verloren
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Erwin geht verloren

Literatur
Veröffentlicht am 13.03.2024
Susanne Leuenberger
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«Findet mich»: Der Romanerstling der in Zürich geborenen Autorin Doris Wirth fügt das Porträt einer Familie wie ein Puzzle zusammen. Die einzelnen Fragmente stehen für sich, sodass doch nicht ganz alles auf das verrückte Verschwinden von Vater Erwin aus dem Alltag zusteuert. In starken Bildern erzählt Wirth, wie sich das Leben von Erwin und allen anderen mit seiner psychischen Erkrankung neu zusammensetzt. Im Ono liest die Wahlberlinerin daraus.

«Die Zeit des fürsorglichen Freiheitsentzuges ist vorbei. Arbeiten, Platz nehmen, essen, Essen loben, Fernsehprogramm. Wocheneinkauf, Altglas wegbringen, neue Kisten voller Wasserflaschen.» 

Erwin, 55 Jahre, Vater zweier erwachsener Kinder, Ehemann und mässig erfolgreicher Arbeitnehmer, haut ab. Er steigt irgendwann in den Nullerjahren in den maronfarbenen Familientoyota, drückt aufs Gas und lässt die Einfahrt zum Einfamilienhaus und die Medis zusammen mit dem geregelten Alltag weit hinter sich. Ab jetzt gibt er seine eigenen Spielregeln vor. Und die sind? 

Erwin will der Welt abhandenkommen – und zwar so, dass die das merkt und ihn sucht. Aber erst nach und nach. Er findet sich auf Campingplätzen wieder, träumt davon, ein Faunenleben im Wald zu führen, nackt, wild, archaisch und mit liebestollen Elfen. Auf dem Weg dahin lässt er sein letztes Geld in Autobahnraststätten liegen und steckt beim Garagisten in der Kreide, der ihm den kaputten Motor flickt. Unterwegs schickt er kryptische Nachrichten an seine Familie.

«Findet mich», nennt sich Erwins Spiel. Und so heisst auch der Debütroman von Doris Wirth, der Erwins Verschwinden mit erzählt. Der Erstling der in Zürich geborenen und in Berlin lebenden Autorin ist eben im Zürcher Geparden Verlag erschienen. 

Doch «Findet mich» ist weder Krankheitsgeschichte noch Roadmovie, es ist überhaupt auch gar nicht bloss Erwins Geschichte, welche die Zürcher Autorin im Buch hier skizziert. Vielmehr entwickelt sie eine in starken Bildern erzählte Familiengeschichte, die mal auf Erwins Ausbruch zuläuft, um dann auch wieder in andere Richtungen auszuschwärmen.  

Unsympathischer Mittfünziger 

Aber eigentlich ist Erwin schon vor seinem Entschluss, «Versteckis» mit seiner Familie zu treiben, verloren gegangen. Seinem Umfeld, aber vor allem auch sich selbst. Vermutlich leidet er an einer Psychose, aber das zeichnet sich erst im Laufe der Erzählung ab, als sich die Ausfälle von Erwin, den die Autorin erfrischend unsympathisch als Mittfünfziger mit Hang zu unbeholfener Egomanie und dominanter Rücksichtslosigkeit beschreibt, häufen. 

Doch «Findet mich» ist weder Krankheitsgeschichte noch Roadmovie, es ist auch überhaupt nicht bloss Erwins Geschichte, welche die Autorin im Buch hier skizziert. Vielmehr entwickelt sie eine in starken Bildern erzählte Familiengeschichte, die mal auf Erwins Ausbruch zuläuft, um dann auch wieder in andere Richtungen auszuschwärmen.  

Beiger Spannteppich und «Laura non c’è»

Wirths Porträt der Familie setzt sich aus den verschiedenen Blickwinkeln ihrer einzelnen Mitglieder zusammen. Wir begleiten mal Erwin, dann wieder seine Frau Maria, Tochter Florence, Sohn Lukas, und das über Jahrzehnte. Das liest sich in seinen vielen Einzelteilen wie das Puzzle einer ganz normalen Schweizer Familie: Das romantische Kennenlernen vom jungen Erwin und der jungen Maria im Tessin; die Geburt der Kinder; die Strandferien in Italien als junge Familie; der Teilzeitjob von Maria, als die Kinder grösser werden; die Selbstständigkeit von Erwin; Erwins eigener strenger Vater Werner, dem Erwin nie genügen wird; der gelegentliche aussereheliche harte Sex, den Erwin braucht und Maria duldet; Marias Musikstunden, die obligate Diät der zweifachen Mutter, die späteren Essstörungen von Teenager Florence; die Kifferjahre von Gymnasialschüler Lukas; die Wutausbrüche von Vater Erwin; die Beschwichtigungsversuche von Mutter Maria; ihre Hirnblutung und Erwin, der während ihrer Rehabilitation unbeholfen die Küche und den Haushalt macht.

Ein normales Familienleben eben. Doris Wirth beschreibt es atmosphärisch, inklusive des beigen Spannteppichs in der 80er-Jahre-Stube und dem 90er-Italo-Hit «Laura non c’è» als Soundtrack der Strandferien. 

Eingerahmt im Flur 

Ziemlich zu Beginn des Romans kehrt Tochter Florence, mittlerweile erwachsen, in ihrer Erinnerung zurück in die Wohnung der Kindheit und betrachtet dort ein Familienfoto, das eingerahmt im Flur hängt. Dabei staunt sie selbst nochmals darüber, wie unerwartet die Geschichte ihrer Familie verlaufen wird: «Wir hingegen, unter den Rosen, sind hinter Glas konserviert. Ich hätte nicht geglaubt, dass wir jemals aus dem Rahmen fallen würden.»

Dass Erwin wahnsinnig wird, dass er und die Familie mit seinem Wahn werden leben lernen müssen, ist der Geschichte, die Doris Wirth in ihrem Debütroman erzählt, wirklich nicht von Anfang an vor- oder eingeschrieben. Und das ist das Gute daran. Doch ob der Normalität durchzudrehen und ihr die eigenen Regeln entgegenzuhalten, ist auch nicht ganz so abwegig. Denn das Familienbild zu erfüllen, wie es die Normalität verlangt, das kann schon verrückt machen.

Und dass es gerade Erwin ist, der unter anderem am bürgerlich-männlichen Ideal des souveränen Pater familiae scheitert und damit alle Beteiligten schonungslos in Mitleidenschaft zieht, ist nicht schön zu lesen (so wenig wie es die Rolle ohnehin ist), ist aber irgendwo folgerichtig. 

// Ono das Kulturlokal, Bern

Di., 26.3., 20 Uhr

www.onobern.ch

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Susanne Leuenberger
Susanne Leuenberger
Redaktionsleiterin

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