Let’s play
Mit Virginia Woolfs «Orlando» geben Patric Bachmann und Olivier Keller ihren Einstand als Schauspiel-Leiter des TOBS. Dass sie sich für diese visionäre Figur ohne fixe geschlechtliche und geschichtliche Gestalt entschieden haben, hat gute Gründe.
Am Anfang ist die Bühne leer. Erst dann beginnt das Spiel – und es könnte verspielter, lustvoller und visionärer nicht sein. Denn Orlando, diese wandelnde Gestalt im Glitzerkostüm, betritt den Raum. Der ewig junge, lebenssüchtige Mensch lebt sich durch die Jahrhunderte und ist im Verlauf davon mal Mann, mal Frau, mal Adeliger, mal Freigeist. Erst lebt Orlando als Jüngling am Hof von Königin Elisabeth und verliebt sich in eine russische Schönheit. Dann verschlägt es ihn als Botschafter nach Konstantinopel, wo Orlando nach langem Schlaf als Frau aufwacht und sich bald im England des 18. Jahrhunderts wiederfindet, wo sie zu schreiben beginnt – und aufgrund ihres Geschlechts lange kein Echo findet. Bis Orlando im 19. Jahrhundert auf den Freigeist und Seefahrer Shelmerdine trifft, der sein weibliches Gegenüber von bürgerlichen Zwängen befreit – und bei gutem Wind in eine offene Zukunft entlässt.
Orlando füllt die Bühne des Theater Orchester Biel Solothurn (TOBS) mit viel mehr Erfahrungen, als in einem gewöhnlichen Menschenleben Raum fänden. Es geht dabei mit einem Schalk und einer Spiellust zu und her, die es mit den Komödien Shakespeares aufnehmen können. Und dies, ohne die gesellschaftlichen und politischen Widerstände, denen Orlando gerade als Frau durch die Zeiten hinweg begegnet, zu ignorieren. So eine Figur kann nur die Schriftstellerin Virginia Woolf erfinden, die «Orlando» 1928 die vielen Leben schenkte.

Lust am Wandel
Mit Woolfs «Orlando» geben Patric Bachmann und Olivier Keller, die neuen Co-Direktoren der Schauspielsparte von TOBS, ihren Einstand. «Uns fasziniert am Stoff die Lust am Wandel. Orlando feiert die Möglichkeiten der Fiktion, ist voller Augenzwinkern und Offenheit», erklärt Patric Bachmann, und fährt fort: «Eigentlich unsere Vision dessen, was Theater tun kann und tun soll.»
Bachmann ist Dramaturg des Stücks, das sein Co-Leiter und Bruder Olivier Keller inszeniert. Vor Ihrem Engagement waren die beiden zehn Jahre beim freien Theater Marie, einem Theater ohne festen Sitz. Unter ihrer Leitung entstanden 30 Produktionen, die mit architektonischen, aber auch immer wieder inneren Räumen spielten und die es verstanden, beides zusammenzubringen.
Neben Romanadaptionen und Theaterklassikern wie «Le nozze di Figaro» setzen die beiden in ihrer ersten Saison auf neue, auch ortsspezifische Projekte: Ihr Sportstück «Neue Körper am Ende der Welt», das die Bieler Autorin Regina Dürig gemeinsam mit der ebenfalls in Biel lebenden Regisseurin und Ex-Profisportlerin Marion Rothaar schrieb, handelt etwa vom Leistungsdruck in der Talentschmiede Magglingen.

Orlando als Vision
Doch zurück zu Orlando. Die Figur mit dem wandelnden Geschlecht, sie ist zurzeit ein vielgesehener Gast auf hiesigen Bühnen, inspirierte etwa auch den Ballettabend «Virginias House», der in der vergangenen Bühnen-Bern-Saison zu sehen war. Der Reiz liege auf der Hand: «Virginia Woolf war eine Visionärin, eigentlich schon fast prophetisch.» Woolf greife im fast 100 Jahre alten Roman absolut aktuellen Fragen nach Gender, vielleicht gar Transgender vor. Und sie relativiere, ja transzendiere mit Orlando auch alle anderen fixen Identitäten, changiere zwischen bürgerlichen und prekären Existenzen.
Mit «Orlando» sprechen die beiden also in die gesellschaftliche Gegenwart, oder besser, ihre Figur tut es, «Orlando», indem sie sich immer wieder direkt ans Publikum wendet – im Roman ebenso wie in der Umsetzung von Keller und Bachmann: «Die vierte Wand ist eigentlich immer offen.»
Die beiden setzen auf eine Inszenierung, in der die Fantasie des Publikums mitspielt: Die fünf Ensemblemitglieder Günter Baumann, Anna Blumer, Gabriel Noah Maurer, Janna Mohr und Fabian Müller stehen alle auf der Bühne, sie verkörpern die Königin Elisabeth, Shelmerdine und alle anderen Figuren, denen Orlando unterwegs durch Zeit und Raum begegnet. Orlando selbst wird von unterschiedlichen Biograf*innen (auch sie werden im Wechsel von allen verkörpert) ins Leben geholt. Dies nicht nur mit Worten, sondern auch mit Bildern, Gesten und Bewegungen. Und mit Kleidungselementen wie Halskrause und Perücke und anderen Requisiten. «Orlando blitzt mehr als Idee und Vision auf, als dass sie*er wirklich da ist», erklärt Patric Bachmann.
«Es gibt keine fixe Deutung»
Woolf selbst richtete sich in ihrem selbstreferenziellen Schreiben immer wieder an die Leser*innen, um festzuhalten, dass sie jetzt einfach gewisse Dinge einer Zeit erfinde. Schliesslich konnte sie nicht wissen, wie es sich wirklich anfühlte und wie es war, etwa im 16. Jahrhundert als Mann zu leben. So will auch Bachmann das TOBS-Stück verstanden haben. Es sei ein Spiel, ein Ausprobieren: «Es gibt keine fixe Deutung. Das Publikum hat recht. Was jede*r einzelne wahrnimmt an dem Abend, das ist eine legitime Interpretation. Theater soll ein gemeinsames Projekt sein, wir spielen mit der Offenheit.»
Dass sich Bachmann und Keller zum Auftakt ihrer Schauspiel-Leitung am TOBS gerade für die Inszenierung dieses Stoffes entschieden haben, dafür gibt es also vielerlei Gründe. Und alle sind gut.
// Stadttheater Solothurn
Premiere: Fr., 20.9., 19.30 Uhr
Vorstellungen in Solothurn und Biel bis 9.11.