Mode macht Menschen
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Mode macht Menschen

Tanz
Veröffentlicht am 16.01.2024
Susanne Leuenberger
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Mit dem Doppelabend «Virginia’s House» begibt sich Bühnen Bern tänzerisch auf die Spuren der Schriftstellerin Virginia Woolf und ihre Faszination für Mode. «Bring no Clothes» von Caroline Finn lässt die Tanzenden vor und hinter Schaufenstern agieren und paradieren.

Auf ihre Einladungskarten schrieb Virginia Woolf gern: «Bring no Clothes», was der Aufforderung gleichkam, sich für die Parties und Abendrunden so zu kleiden, wie es sich stimmig anfühlte. Dass Etikette zuweilen bloss Verletzlichkeit verdeckt, Kleider und Stil aber auch Ausdruck und Geburtshelfer für ein neues Selbst sein können, ist eine Erfahrung, die Virginia Woolf ihrem Leben im Epizentrum der Londoner Gesellschaft ihrer Zeit verdankte. Und immer wieder selbst beobachtete und erprobte.

In ihrem Haus im Stadtteil Bloomsbury, das sie mit ihren Geschwistern Vanessa, Thoby und Adrian bewohnte, verkehrte die Kunstwelt und Intelligenzia der Zeit. Geschlechtliche, moralische, sexuelle, aber auch ganz einfach modische Konventionen waren keine gern gesehenen Gäste.

«Bring no Clothes» heisst auch der zweite Teil des Doppel-Tanzabends «Virginia’s House» in den Vidmarhallen, in dem sich die britische Choreografin Caroline Finn der ikonischen Schriftstellerin nähert. Ihr Stück schliesst an den ersten Teil des Doppelabends «I Burn, I Shiver» an, in dem Choreografin Paloma Muñoz, diesjährige Preisträgerin des Berner Tanzpreises, tänzerisch einen «stream of consciousness» erzeugt und dabei unter anderem Woolfs zeiten- und geschlechterreisender Figur «Orlando» folgt.

Selbstgeschneidertes Kleid

«Virginia Woolf lebte das Leben in der Society mit einem grossen Interesse und Bewusstsein für das Potenzial der Mode», erklärt Caroline Finn ihren Zugang zu Woolf. Auch sie selber sei fasziniert davon, wie Mode und Hüllen auf Körper und Identitäten einwirke. Inspiration fand Finn unter anderem in Woolfs Kurzgeschichte «The New Dress», einer Vorläufergeschichte zu «Miss Dalloway». Die Erzählung beschreibt die inneren Empfindungen einer jungen Frau, die in einem selbstgeschneiderten Kleid auf einer Society-Party erscheint. «Was macht es mit ihr, es zu tragen, und was macht es, damit gesehen zu werden?» 

Woolf selbst nannte das «Frock Consciousness»: ein Bewusstsein für die Verbindung, die Stoff und Haut, Berührung und Ausgestelltsein, sich-zur-Schau-stellen und sich-selber-wahrnehmen, Kreativität und Körperlichkeit eingehen. Genau dieses Wechselspiel macht Tanz als Körperkunst ohnehin aus.

Zusammen mit dem Ballett-Ensemble entwickelte Finn das Stück ausgehend von einer realen An- und Umkleidesituation. So begannen die ersten Proben damit, dass sich die Tänzer*innen ihre Kleider und Kostüme aus dem Fundus des Hauses frei aussuchen konnten. Die Figuren, die sich auf der Bühne begegnen, entstanden aufgrund dieser Wahl.

Herausgekommen ist ein Fluss von Mikronarrationen, assoziativen Figuren und Bewegungstableaus, der die gegenseitige Bedingtheit von Innen und Aussen, des (Sich-selber-)Sehens und Gesehenwerdens, von Voyeurismus und Exhibitionismus erforscht. 

Voyeurismus und Exhibitionismus 

Herausgekommen ist ein Fluss von Mikronarrationen, assoziativen Figuren und Bewegungstableaus, der die gegenseitige Bedingtheit von Innen und Aussen, des (Sich-selber-)Sehens und Gesehenwerdens, von Voyeurismus und Exhibitionismus erforscht. 

Die Tanzbewegungen sind mal zaghaft, nervös, aber auch übermütig, fröhlich oder erhaben. Eitle Dandys betreten die Szene und fangen die Blicke, während sich gleichzeitig im Hintergrund oder auf einer seitlichen Rampe, die auf eine höhere Ebene führt, was tut. 

Denn entlang der Bühne verlaufen Schaufenster, in und vor denen die Persönlichkeiten und Extravaganzen aufeinandertreffen, sich verfehlen oder einander auffangen. Das erinnert an die Ball Culture und an Vogueing, dieses emanzipative und kompetitive Spiel mit Stoff, Tanz und Catwalk, das im queeren, afroamerikanischen Untergrund New Yorks der 1970er-Jahre entstand. Auf der Bühne tragen die männlichen Tänzer mitunter auch Röcke und exaltierte Mäntel und Kleider. 

Es gehe ihr aber nicht primär um Genderspiele, sagt Finn: «Ich sehe in den Figuren kein Geschlecht, es geht mir auch nicht um eine Drag- oder Gender-Performance, sondern um Personen und Persönlichkeiten, die im Zusammenspiel mit Mode entstehen.» 

Bereits in der Saison 2022 erkundete die Hauschoreografin im Tanzstück «Le Troisième Sexe» mit den weiblichen Mitgliedern des Ensembles ein animalisches Körpersein, das sich im Laufe der Performance fast gänzlich von Gender löste.

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Bern Ballett bringt Virginia Woolf in Bewegung. © Marvin Mears

Glockenschlag begleitet 

Die Tanzenden bewegen sich zu stimmigem Sound: Regengeräusche gehen etwa über in hämmernde, mechanisch-repetitive Beats, in die sich verzerrte Glockengeräusche mischen. Ein atmosphärisches Echo auf Woolfs vielleicht berühmteste Erzählung, «Miss Dalloway», in der die Stunden, die Big Ben in Westminster schlägt, den Fluss der vielen und vielfältigen inneren Erfahrungen strukturiert. In Finns Tanzstück begleitet der hallende Glockenschlag den Lauf der Bewegungen.

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Susanne Leuenberger
Susanne Leuenberger
Redaktionsleiterin

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