Obsession Kylie
 Minuten Lesedauer

Obsession Kylie

Bühne Theater
Veröffentlicht am 04.05.2024
Tabea Andres
 Minuten Lesedauer

Beim Theater Orchester Biel Solothurn (TOBS) gibt Joëlle Anina Müller mit Liv Strömquists Graphic Novel «Im Spiegelsaal» ihr Regiedebüt. Es gelingt dem Stück vorzüglich, den Humor der Buchvorlage auf die Bühne zu transportieren. Im Gespräch erzählt sie gemeinsam mit Schauspieldramaturgin Svea Haugwitz, warum die Tyrannei der Bilder vor niemandem Halt macht.

Kylie Jenner ist allgegenwärtig. Auch auf der Bühne, wo das dreizehnköpfige Ensemble des TOBS-Generationenprojekts probt, tritt sie in Form verschiedenster Porträts in Erscheinung. Ihre Bienenkönigin-Silhouette ist auf einen Schaumstoffblock aufgemalt – und wird irgendwann eingerissen. Es fallen Sätze wie: «Eigentlich interessiere ich mich überhaupt nicht für Kylie, aber irgendwie muss ich sie trotzdem wie hypnotisiert anstarren, stundenlang.» An anderer Stelle kommt es zum absurden Kylie-Gebet. Und auch in Form eines modernen Märchens über Selbstbestimmung wird von der jüngsten und erfolgreichsten der fünf Kardashian-Schwestern erzählt.

Image description
Wären wir alle gerne ein bisschen Kylie Jenner? Eine Darstellerin aus dem Stück «Im Spiegelsaal». © Shanice Haas

Kein Sonnenuntergang

«Im Spiegelsaal» heisst die Graphic Novel von Liv Strömquist – 2021 ist sie auf Deutsch erschienen. Darin beschäftigt sich die schwedische Zeichnerin und Radiomoderatorin essayistisch mit der Tyrannei der Bilder. Zu Wort kommen lässt sie Kulturkritikerin Susan Sontag genauso wie den Anthropologen René Girard. Der Beginn des Buches ist dem Social-Media-Phänomen Kylie Jenner gewidmet. Strömquist fragt: Warum können Menschen, die ein Bild von Kylie Jenner betrachten, nicht dasselbe fühlen wie beim Anblick eines Sonnenuntergangs?

Imperium der Bilder

Am TOBS hat Joëlle Anina Müller, die seit der Spielsaison 2020/21 als Regieassistentin wirkt und mit der Adaption der Graphic Novel nun ihr Regiedebüt gibt, ein Stück geschaffen, in dem die philosophisch-theoretischen Exkurse Strömquists oftmals direkt aus den Mündern der Schauspielenden kommen. Denn sind sie nicht letztendlich die Expert*innen, die tagtäglich durch das von der Philosophin Susan Bordo benannte «Imperium der Bilder» navigieren?

Image description
Joëlle Anina Müller bringt Liv Strömquists Graphic Novel «Im Spiegelsaal» zur Schweizer Erstaufführung. © Olivier Allard

Die Darsteller*innen wurden 2022 im Wissen um die Comic-Vorlage gecastet. «Zu Beginn des Projekts hat uns interessiert, wie jede einzelne Person die Macht der Bilder und Selbstbilder in ihrem eigenen Leben wahrnimmt», erzählt Müller. Während der Proben habe sie sich aber entschieden, keine persönlichen Geschichten des Ensembles ins Stück zu integrieren: «Letztlich sollte es Theater bleiben und keine Dokumentation werden. Ausserdem wollte ich die intimen Storys nicht auspressen und Rücksicht auf allfällige Verletzungen nehmen.» Dennoch, ist die Schauspieldramaturgin Svea Haugwitz überzeugt, sei es die gemeinsame Auseinandersetzung des Ensembles, das eine Altersspanne von 15 bis 75 Jahren und verschiedenste geschlechtliche Identitäten und Körperverständnisse mitbringt, die dem Spiel Intensität verleiht.

«Mich berührt das unabhängig davon, ob es ihre eigene, persönliche Story ist, denn es ist die Geschichte unserer Gesellschaft, die ab einem gewissen Alter Menschen und Sex nicht mehr zusammen denkt, und es wird früher oder später die Geschichte jeder Frau sein»
— Svea Haugwitz

«Die Geschichten aus der Vorlage von Liv Strömquist stehen bereits stellvertretend für die persönlichen Geschichten des Ensembles», meint sie. Wenn beispielsweise die älteren Frauen im Stück über ihre «Fuckability» sinnieren und dann die Monologe von Schneewittchens Mutter spielen, dann würden sie für alle Frauen in ihrem Alter sprechen. «Mich berührt das unabhängig davon, ob es ihre persönliche Story ist, denn es ist die Geschichte unserer Gesellschaft, die ab einem gewissen Alter Menschen und Sex nicht mehr zusammen denkt, und es wird früher oder später die Geschichte jeder Frau sein», so Haugwitz.

Die Kostüme zu «Im Spiegelsaal» haben Virginie Jemmely und Modestudierende der Haute école d'art et de design in Genf entworfen. «Bei der Inszenierung unseres Selbstbilds spielt die Mode eine grosse Rolle. Die ist zweischneidig, weil sie als individueller Ausdruck gesund sein kann, aber auch schnell zu einem toxischen Wettbewerb verkommt», so Müller.

Image description
TOBS-Schauspieldramaturgin Svea Haugwitz glaubt, dass die Gesellschaft ab einem gewissen Alter Menschen und Sex nicht mehr zusammen denkt. Das zeige auch «Im Spiegelsaal» © Suzanne Schwiertz

Dann halt wieder joggen

Regisseurin Joëlle Anina Müller gelingt es ausgezeichnet, den Humor, den Comic-Autorin Strömquist in ihren grotesken Strips kondensiert, in komisch-schmerzhafte Theatralik zu übertragen: Da wandelt eine Darstellerin «Billie Jean» kurzerhand zu «Skinny Jeans» um und im Rhythmus von Michael Jacksons Hit versucht der Rest des Ensembles, sich in enge Hosen zu manövrieren. Berührend wird es, wenn eine ältere Darstellerin Alphavilles ikonisches «Forever Young» zum Besten gibt. Auf der Bühne entsteht ein Kampf um Plastikfolie, denn zusammengeknüllt verhilft sie den Protagonist*innen unter der Kleidung zu gewünschten Kylie-Rundungen.

Image description
«Forever Young»? Eine Darstellerin aus dem Stück «Im Spiegelsaal».

Eine solche Folie ist es auch, mit der zwei Darstellerinnen als «Liebespaar» umwickelt werden, bis sich eine von ihnen abrupt loslöst und ihre Partnerin zurücklässt. Die Verlassene beginnt ein deprimierendes Mantra vor sich hinzumurmeln, dass sie sich nur körperlich optimieren müsse, um wieder begehrt, geliebt und später erneut verlassen zu werden. Aber dann könne man ja wieder mit Joggen beginnen.

// Stadttheater Biel

Premiere: Sa., 11.5., 19 Uhr

Vorstellungen in Biel und Solothurn bis 21.5.

www.tobs.ch

Artikel des/derselben Autor:in
Tabea Andres
Tabea Andres
Redaktorin

BKa abonnieren

Dieser und unzählige weitere Artikel sind auch in gedruckter Form erhältlich. Die Berner Kulturagenda erscheint zweiwöchentlich und beleuchtet das Berner Kulturgeschehen.