Sakral all around
Am Konzert «Cori Spezzati» hört das Publikum die Musik aus allen Kirchenecken. Fast hundert Mitwirkende performen hier nach Venezianischer Mehrchörigkeit geistliche Werke aus Barock und Moderne. Das ist auch für den Dirigenten Moritz Achermann eine Premiere.
Wer den «Sound all around» sucht, findet ihn bekanntlich im Kino. Für einmal gibt es ihn auch in der St. Marienkirche im Breitenrain. Hier spannen die Berner Vokalensembles Amadeus Chor und Suppléments Musicaux mit dem Lausanner Chor Projét 120 zusammen. Der Konzerttitel ist Programm: «Cori Spezzati». Das heisst so viel wie «geteilte Chöre» und steht für eine Aufführungspraxis, die ihren Anfang im 16. Jahrhundert im Dom San Marco von Venedig nahm.
Das Prinzip dieser Tradition, die als Venezianische Mehrchörigkeit in die Musikgeschichte einging, ist einfach, der Effekt aber ist pompös: Die Chöre stehen verteilt im Raum und singen um das Publikum herum. Der Klang wandert durch die Kirche und nimmt seinen Höhepunkt dann, wenn er von allen Seiten zu den Hörenden gelangt. Wie diese neuartige Aufführungspraxis im Markusdom, wo die Chöre auf verschiedene Emporen verteilt waren, auf das Publikum jener Zeit gewirkt haben muss, kann man nur erahnen. «Es muss ein rauschhaftes Raumklangerlebnis gewesen sein», sagt Moritz Achermann, der das Konzert in Bern dirigiert.

Musik für den Raum
Hier gibt es architektonisch keine vergleichbare Kirche. Dennoch ist der Chorleiter und Dirigent zuversichtlich, auch in der Raumverteilung der Marienkirche diese atmosphärische Wucht erzeugen zu können: «Oft geht vergessen, dass fast jede Musik für konkrete Orte komponiert wurde, die wir heute in anderen Kontexten spielen.» So würden heute beispielsweise auch Kammermusikwerke im grossen Konzertsaal aufgeführt.
Dem Coro Spezzato gehören nicht nur Sänger*innen an, auch instrumentale Gruppen können dem damaligen Verständnis gemäss Teil davon sein. Im Konzert erklingen also auch zwei Orgeln, Posaunen, Violinen, Gamben, Laute oder Instrumente aus der Renaissance wie der Zink: ein Blasinstrument mit hölzernem Körper und einem Mundstück, das an eine Trompete erinnert.
Es ist sakrale Musik, die hier «all around» gehört wird. Herzstück des Programms bilden Werke des venezianischen Domorganisten Giovanni Gabrieli, einer der frühen Tüftler, der die Venezianische Mehrchörigkeit verfeinerte. Von ihm gibt es vierzehn- bis sechzehnstimmige Kompositionen zu hören.

Das Halleluja im Nachhall
Neben Werken von ganzen zehn Komponist*innen der Renaissance und Barockzeit – darunter von Isabella Leonarda, eine der ersten Komponistinnen, deren Instrumentalwerke veröffentlicht wurden – kommen Kompositionen dreier Zeitgenossen zum Zuge. Darunter das kirchenmusikalisch avantgardistische «Hülle und Fülle III» des Schweizer Komponisten Urs Peter Schneider, das für einen Stimmungswechsel sorgen dürfte. Bei dieser Partitur singen sich die Sänger*erinnen die einzelnen Silben des «Halleluja» paarweise durch den Raum zu.
Modern wirds auch mit dem Magnificat von Arvo Pärt. «Bei Pärt hallt die Tradition alter liturgischer Gesänge der Ostkirche nach», so Achermann. Ausserdem gelangt Andreas Heinigers «Zwölf» zur Uraufführung, für welches der Komponist stilistisch aus dem Barock schöpfte, dies dann aber in eine moderne Klangsprache übersetzte. Der Bieler Komponist und Geiger wird im Instrumentalensemble mitspielen.

«Eine grosse Kiste»
Achermann dirigiert zum ersten Mal das Repertoire der Venezianischen Mehrchörigkeit. Um für alle Beteiligten sichtbar zu sein, gibt er von der Mitte des Raums aus den Takt an, und tut dies mit einer Art Choreografie, um stets der richtigen Chorgruppe zugewandt zu sein. «Es verlangt schon aussergewöhnlich viel Planung, damit der Ablauf, die Aufstellungen und das Timing stimmen.» Insgesamt sind es fast hundert Sänger*innen und Instrumentalist*innen, die Achermann anleiten wird. «Eine grosse Kiste wird das.»
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