Salz, Laubbündel, Rauch
 Minuten Lesedauer

Salz, Laubbündel, Rauch

Film
Veröffentlicht am 20.12.2023
Susanne Leuenberger
 Minuten Lesedauer

«Smoke Sauna Sisterhood» zeigt Frauen, die in einer Waldsauna zusammenkommen, um schmerzhafte Erinnerungen auszuschwitzen. Die estnische Filmerin Anna Hints hat für die hypnotische Arbeit den Europäischen Filmpreis für den besten Dokfilm gewonnen.

«Werde mächtig, werde mächtig, werde mächtig, werde mächtig.» Der Film beginnt mit dem Rhythmus einer sich in Trance redenden Frauenstimme vor dunklem Hintergrund. Erst die Beschwörung erzeugt das erste Bild: eine nackte Frau, die ihr Kind stillt. Oder besser die Nahaufnahme ihrer Brust, von der der Säugling trinkt. Das Stillbild, im wahrsten Sinne des Wortes, entstand in einer Schwitzhütte.

Diese steht in einem verschneiten Wald im Nordosten Estlands, draussen wirbeln die Schneeflocken. Eine Frau schlägt und schneidet mit einer Hacke ein Loch in den zugefrorenen See. Dort wird sich die Handvoll namenloser Frauen, die in der Rauchsauna zusammenkommen, abkühlen. Hier in der Schwitzhütte aber arbeiten sich die Frauen durch Erinnerungen. Rituelle Gesänge aus uralten Zeiten begleiten sie dabei.

Schmerzhaft nah

Der Dokfilm «Smoke Sauna Sisterhood» der estnischen Filmerin Anna Hints zeigt geradezu mystische Nahaufnahmen von schwitzender Haut, auf der Wasser perlt, er zeigt die nackten Körper der Frauen im Dunst, draussen beim Lauf im Schnee, beim Eintauchen ins Eisbad, beim Tanzen, beim Teilen intimer Geständnisse, beim Lachen, beim Weinen, beim Singen, beim gegenseitigen Einreiben und Abklopfen.

Die Abkühlung raubt ihr den Atem. Die Intimität des Films tut dies auch. ©Trigon Film
Die Abkühlung raubt ihr den Atem. Die Intimität des Films tut dies auch. ©Trigon Film

Sie zeigt Körper, die eine Geschichte haben und zusammen ihre Geschichte teilen. Die Frauen erzählen vom Gebären, von der ersten Mens, vom ersten Sex. Eine intime Annäherung ans Frausein. Doch ebenso nah, schmerzhaft nah, rückt in all den Erzählungen das, was vielleicht am ehesten mit Gender gefasst werden könnte: Das, was die patriarchale Gesellschaft mit ihren weiblichen Körpern, ihren Wünschen und Träumen machte. Eine der Frauen erzählt vom langen Weg, den als hässlich gebrandmarkten Körper anzunehmen, andere von der Scham, abgetrieben zu haben, und eine vom Schmerz, damit vom Kindserzeuger alleine gelassen worden zu sein. Sie erzählen von der Entdeckung gleichgeschlechtlicher Anziehung, vom gewalttätigen Grossvater, der missgünstigen Grossmutter und der jähzornigen und depressiven Mutter, die an der bleiernen Nachkriegsrealität zerbrach. Von Vergewaltigung, von später Liebe und einer Totgeburt.

Ort der Heilung

Jede der Geschichten ist einmalig, doch was die Erzählungen eint, ist, dass sie nicht ohne diese weiblichen Körper so wären. Diesen letzten Satz kann man nun entweder banal oder seltsam finden oder beides, aber selten rückt ein Film näher an die Materialität des Frauseins. Das ist der geduldigen, visuell überwältigenden Arbeit von Regisseurin Hints zu verdanken.

Geneaologie weiblicher Heilung

Hier in der Schwitzhütte, langsam und unaufgeregt, arbeiten sich die Frauen durch Trauer und Angst. Die Rauchsauna ist ein transformativer Ort, seit Jahrhunderten tradiert. Anna Hints, die sich lange mit estnischer Folklore auseinandersetzte, reiht die rituelle Reinigung in eine Genealogie weiblicher Selbstheilung ein. Die Unesco zähle die Tradition zum Weltkulturerbe, heisst es so im Abspann. Mit Salz, Laubbündeln und Rauch wird der Schmerz ausgerieben, ausgeklopft, ausgeschwitzt. Und vor allem mit schwesterlicher Anteilnahme an den Geschichten. «Wir schwitzen all den Schmerz aus/Wir schwitzen all die Angst aus» wiederholen die Stimmen am Ende, wieder und wieder. Für ihren Film hat Anna Hints den Europäischen Filmpreis für den besten Dokumentarfilm gewonnen.

Artikel des/derselben Autor:in
Susanne Leuenberger
Susanne Leuenberger
Redaktionsleiterin

BKa abonnieren

Dieser und unzählige weitere Artikel sind auch in gedruckter Form erhältlich. Die Berner Kulturagenda erscheint zweiwöchentlich und beleuchtet das Berner Kulturgeschehen.