«Sie versuchte in jedem Buch etwas Neues. Da ist sie mir Vorbild.»
Vor 50 Jahren erschien der feministische Kultroman «Häutungen» von Verena Stefan. «brüten wir die welt neu aus» nennt sich die Tagung im Progr, auf der Weggefährtinnen, Wissenschafterinnen und Kulturschaffende zusammenfinden. Autorin Tabea Steiner hat den Tag und eine Text-Bild-Performance gemeinsam mit Mariann Bühler kuratiert. Ein Gespräch übers Schreiben als Wachsen und Weitergeben.
Tabea Steiner, Sie ermöglichen mit einer Tagung eine Begegnung mit dem Werk von Verena Stefan. Wie sind Sie selbst mit Verena Stefan in Berührung gekommen?
Tabea Steiner: Das war vor bald zwanzig Jahren. Ich war damals Mitglied der Literaturkommission des Kantons Bern, und Verena Stefan erhielt einen Preis für ihren späten Roman «Fremdschläfer». Bis heute gehört dieses Buch zu meinen Lieblingswerken. Ich glaube, es war Balts Nill, der mit grossem Respekt – und fast ein wenig Aufregung – von ihrem Kultroman «Häutungen» sprach. So las ich auch ihren Erstling. Später hatte ich das Glück, Verena Stefan auf der Lesereise zum Preis persönlich zu begegnen.
Wie war sie als Mensch?
Sie war beeindruckend warmherzig und hatte eine selbstverständliche Offenheit. Diese erfahrene Autorin begegnete mir, der jungen Autorin, auf Augenhöhe und nahm mich ernst. Für mich war sie ein Role Model.
Wie würden Sie einer Person, die Verena Stefan noch nicht kennt, ihr Schreiben beschreiben?
Sie schreibt klar und präzise – politisch, poetisch und verletzlich zugleich. In ihrem Werk verbinden sich Intimes und Politisches auf besondere Weise. In «Fremdschläfer», ihrem letzten zu Lebzeiten erschienenen Roman, beschreibt sie ihre Krebserkrankung, das Leben als Migrantin in Montreal und ihren Alltag als Deutschmuttersprachlerin in einer gleich zweifach fremden Sprache. Alles ist vielschichtig ineinander verwoben, nichts wirkt bemüht oder parolenhaft.
Ist sie eine Inspiration für Ihr eigenes Schreiben?
Sie versuchte in jedem Buch etwas Neues. Da ist sie mir Vorbild. Ich sehe mein Schreiben sonst nicht unbedingt in enger Verwandtschaft zu ihrem, und doch empfinde ich grosse Faszination und Respekt für die Genauigkeit und Schonungslosigkeit, mit der sie schrieb. Sie war in gewisser Weise Punk – und zugleich äusserst sorgfältig. Ein zentraler Punkt in ihrem Schreiben ist der Körper. In ihrem Erstling «Häutungen» geht es darum, sich schreibend aus den Zuschreibungen des Patriarchats zu lösen. Das hat etwas Radikales und Intimes zugleich. Sie sezierte die Sprache bis auf die Buchstaben, um neu anfangen zu können.
Verena Stefans Romane galten lange als Frauenliteratur.
Ja, nach Erscheinen ihres Debüts wurde ihr Schreiben in die Frauenecke gestellt. Es war zu heftig, zu eigen – und passte in kein vorgefertigtes Genre. Nach und nach wurde ihr Werk als autofiktionales, poetisches Schreiben gewürdigt. Literarisch ist das hochkomplex und stark intertextuell. Ihr Roman «es ist reich gewesen», ein fiktives Gespräch mit der verstorbenen Mutter, handelt vom intergenerationalen Weitergeben des Schreibens – vom Wollen, Können und Dürfen. Der Text spannt einen Bogen von der Grossmutter mütterlicherseits, die schreiben wollte und nicht konnte, über die Mutter, die heimlich schrieb, bis zu ihr selbst, die Schriftstellerin wurde. Dabei verarbeitet sie auch Tagebuchaufzeichnungen ihrer Mutter.
Autorinnen wie Jessica Jurassica beziehen sich heute explizit auf Verena Stefan. Es geht bei JJ um Scham, um sexuelle und gesellschaftliche Macht, um den Kunst- und Literaturbetrieb. Sind wir weitergekommen?
Ich würde sagen: Verena Stefans Werk ist aktueller denn je. Sexismus und der Kampf um Sichtbarkeit sind nach wie vor Themen. Gleichzeitig sind wir weiter, weil wir heute mehr sind, die in ihrer Nachfolge schreiben – und diese Nachfolge ist vielfältig und divers.
Gemeinsam mit der Autorin Mariann Bühler haben Sie die Performance «brüten wir die Welt neu aus» entwickelt. Textfragmente von Verena Stefan treffen dabei auf Zeichnungen der Illustratorin Dinah Wernli.
Ich sehe das als ein zweifaches Weitertragen von Verena Stefan: Die Zitate stammen von ihr – und wir schreiben, deuten und tradieren als Autor*innen unserer Generation an einer Welt weiter, die ja längst da ist. Sie ist nicht von uns erfunden. Dieser Gedanke ist zutiefst im Sinne Verena Stefans, die über Frauengenerationen hinweg schrieb. Sie erteilte der Vorstellung eines abgeschlossenen, unveränderlichen Werks eine klare Absage. Denn auszubrüten und auf die Welt zu kommen bedeutet, sich in Beziehung zu begeben – mit anderen und durch andere zu wachsen.
Sind Sie optimistisch?
Ja. Auch. Wir sind viele, die gemeinsam unterwegs sind. Auch da denke ich an Verena Stefan. Sie gab den Erzählsammelband «Rauh, wild und frei» heraus, in dem Mädchengestalten aus verschiedensten Romanen und Erzählungen aufeinandertreffen und miteinander ins Gespräch kommen. Ähnlich suchen wir feministischen Literaturschaffenden heute nach Sprachen und Begegnungen. Wir tragen dieses Erbe weiter. Je älter ich werde, desto mehr interessiert mich ohnehin die Frage, was die jüngeren Generationen machen.
// Aula im Progr, Bern
Sa., 22.11., ab 13.30 Uhr
- Lesung Jessica Jurassica: 17.45 Uhr
- Inszenierung «brüten wir die welt neu aus»: 20.30 Uhr