Zähes Schweigen deckt die Angst
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Zähes Schweigen deckt die Angst

Bühne Theater Performance
Veröffentlicht am 17.05.2024
Helen Lagger
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Sergi Casero Nieto tritt am Theaterfestival auawirleben mit seiner Performance «El Pacto del Olvido» auf. Der in Barcelona aufgewachsene Performer holt Familiengeheimnisse während der Diktatur von Franco auf die Bühne. Auch sonst wartet die 42. Festivalausgabe unter dem Motto «How Did We Get Here?» mit viel politischer Brisanz auf. Es geht etwa um Bewegungsfreiheit und Reiseverbote.

Der 1991 in Barcelona geborene Performancekünstler Sergi Casero Nieto lebt heute in Amsterdam und hat an der Design Academy Eindhoven studiert. Bald ist er mit seiner Performance «El Pacto del Olvido» zu Gast beim Theaterfestival auawirleben. Die 42. Ausgabe stellt als diesjähriges Motto eine Frage:«How Did We Get Here?» – zu Deutsch und sinngemäss «Wie sind wir bloss hierhin gekommen?».

Seit seiner Gründung reagiert das Festival auf politische und gesellschaftliche Veränderungen, schaut dorthin, wo es weh tut. Das tut auch Sergi Casero Nieto, der in seiner Performance Forschung, Historisches und Persönliches verbindet. Der Titel seines Stückes spielt auf das Amnestiegesetz von 1977 an, welches nach dem Tod des Diktators Francisco Franco verabschiedet wurde. Es verhinderte die Aufarbeitung der während der Diktatur begangenen Gräuel und Verbrechen.

Als Sergi Casero Nieto sich für die Vergangenheit zu interessieren begann, stiess er auf eine Mauer des Schweigens und der Ignoranz. Nicht nur seine eigene Grossmutter und Mutter befragte er, sondern auch Eltern von Freund*innen, die aber ebenso wenig über diese Zeit und ihre Familiengeschichte wussten oder preisgeben wollten. Der Performer spricht vom «Trauma einer ganzen Nation».

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Sergi Casero Nieto setzt sich mit dem Nicht-Erinnern auseinander. © Carmen Gray

«Warum willst du das wissen?»

Auf der Bühne benutzt Sergi Casero Nieto unter anderem einen Hellraumprojektor. Licht und Sound erwecken Erinnerungen zum Leben. In seiner autofiktionalen Erzählung kombiniert der Performer persönliche Erfahrungen und Fotos mit Dokumenten und Texten, die auf oral history, also mündlich überlieferte Erinnerungen, zurückgehen.

So will Sergi Casero Nieto mehrere Perspektiven auf das kollektive Schweigen sichtbar machen, eine andere Wahrheit als die «offizielle» soll zum Vorschein kommen. Das Schweigen und die Angst sind aber bis heute zäh. So fragt der Performer seine Grossmutter nach der Kindheit und Jugend unter der Diktatur. «Warum willst du das wissen? Ich habe ein vollkommen normales Leben gehabt», bekommt er als abwehrende Antwort. Auch erhält er den Ratschlag, keine Position zu beziehen, da dies nur Ärger einbringe. 

Verblasste Kindheitserinnerungen spielen in seiner Performance eine wichtige Rolle. Eine spezielle handelt von einem Ausflug in die Schweiz im Alter von acht Jahren. In Erinnerung geblieben seien ihm vor allem die Berge und die Uhr aus Blumen in Montreux. «Die hat sich mir ins Hirn gebrannt.»

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Die brasilianische Künstlerin Natalia Fernandez hinterfragt tanzend das Konzept «Heimat». © Fernardo Vilche

Blumen kommen so auch in Sergi Casero Nietos Performance zum Einsatz. Er legt sie auf einen Projektor und beschwört eine scheinbar idyllische Landschaft herauf. Gleichzeitig spricht er von der erst kürzlichen Exhumierung der Massengräber der Diktatur-Opfer – und von seiner Erinnerung an diesen schmerzvollen Moment.

Fingerabdrücke und kollektive Wunde

Viel politisch Aufgeladenes erwartet die Besucher*innen auch im restlichen Programm der diesjährigen Ausgabe. Der Theatermacher Thomas Bellinck aus Brüssel und der Journalist Said Reza Adib aus dem Iran etwa haben aus der Distanz gemeinsam einen persönlichen Text über Grenzregime und Fingerabdrücke, die bestimmen, wer wo willkommen ist, geschrieben.

Auch die brasilianische Künstlerin Natalia Fernandes hinterfragt an ihrem Konzert «El Carnaval No Es Alegre», bei dem sie als Tänzerin auftritt, den Heimatbegriff. Somit legt das Festival auawirleben den Finger in kollektive Wunden unserer globalisierten Welt.

// Diverse Orte, Bern

Mi., 22.5., bis So., 2.6.

  • «El Pacto del Olvido»: Tojo Theater der Reitschule. So., 26.5., 20 Uhr und Mo., 27.5., 19 Uhr

www.auawirleben.ch

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Helen Lagger
Freie Autorin

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