Bittermann gibt den Ton an Nº17 – Cancel-Culture avant la Lettre
Simon Bittermann hat ein Gehör für gute Noten. Der Journalist und Musikkritiker ist auch Musikalienhändler beim «Notenpunkt», wo er das Sortiment und den Einkauf verantwortet. Für die BKa hört er schon mal vor, welche Klassiker bald in Berns Konzertsälen ertönen. Zum Beispiel die wiederentdeckten Kompositionen des vergessenen Robert Oboussier.
Braucht es einen Kanon oder nicht? Im Studium hatte ich mit einem Dozenten einen Disput. Und irgendwie hatte der Dozent ja recht: Die Idee einer Liste mit den wichtigsten Werken und Komponist*innen der Musikgeschichte ist nicht unproblematisch. Wie stellt man fest, wer und was wichtig ist und somit auf diese Liste gehört? Rein faktisch hat man da keine Chance. Interessante satztechnische Details findet man nicht nur bei den erklärten Meister*innen, sondern auch in den langweiligsten Machwerken. Mehr Erfolg verspricht da die Wirkungsgeschichte. Hat ein*e Komponist*in andere beeinflusst? Werden die Werke noch (oder wieder) gespielt?
Doch gerade letzteres Kriterium ist komplex. Viele der heute als «gross» bezeichneten Komponist*innen sind im Laufe der Zeit von der Bildfläche verschwunden und wurden erst nach Jahrzehnten wiederentdeckt. Die Vermutung liegt nahe, dass in den Archiven noch so mancher blinde Fleck der Musikwissenschaft schlummert und seiner Entdeckung harrt. Die Musikindustrie zerrt gern Komponist*innen ans Licht, die wegen ihres Geschlechts leider weniger Chancen auf Ruhm hatten, und vermarktet sie als verkannte Genies. Nicht immer, aber manchmal zu Recht.
Es gibt aber auch den umgekehrten Fall der vergessenen Meister*innen. Warum werden manche, zu ihrer Zeit berühmte Figuren, vergessen? Im Fall des Schweizer Komponisten und Musikkritikers Robert Oboussier (1900–1957) stand am Beginn seines (doppelten) Verschwindens ein Kriminalfall. Am 9. Juni 1957 wurde Oboussier, seines Zeichens Vizedirektor der SUISA und Vorstandsmitglied des Schweizerischen Musikerverbands, von einem 18-jährigen Sexarbeiter ermordet. Das Verbrechen warf ein Schlaglicht auf das Doppelleben des Komponisten – und auf die Homosexuellenszene Zürichs. Beide wollte in der konservativen Schweiz niemand sehen. Die NZZ startete die posthume Ausgrenzung und berichtete, dass Oboussier «in den Kreisen abnormal veranlagter Männer» verkehrt habe. Aus einem über die Landesgrenzen hinaus bekannten Musiker – in Zürich war Oboussier gar ein kleiner Star –, wurde eine «zwiespältige», ja «fragwürdige» Person. Geplante Konzerte wurden abgesagt, der Mensch und der Musiker wurden totgeschwiegen.
Hätte Oboussiers Musik ohne diese «Cancel-Kultur avant la lettre» im Konzertleben überdauert? Ich weiss es nicht, aber zumindest erhält der Komponist zu seinem 125. Geburtstag eine neue Chance. Der Komponist und Musikproduzent Ramon Bischoff hat zum Jubiläum ein Buch herausgegeben, in dem nicht nur der 9. Juni 1957 und seine Folgen aufgearbeitet werden, sondern auch versucht wird, dem Menschen, dem Komponisten und seinem Werk gerecht zu werden. Dazu gibt es schweizweit fünf Jubiläumsfeiern mit Konzert und Podium, an dem über die Geschichte und die Musik aus der Zeit vor, während und nach dem 2. Weltkrieg gesprochen wird. Die Feier kommt auch nach Bern. Eine bessere Chance, sich Robert Oboussier wieder anzunähern, gibt es nicht.