Das Aufbrechen der Klammer
Am diesjährigen Lesefest Aprillen spricht Dinah Wernli über ihre Graphic Novel «Louise». Mit dabei sind auch weitere Schriftsteller*innen wie Saša Stanišić und die ukrainische Autorin Yevgenia Belorusets.
Wer sind eigentlich die Personen auf einem Gemälde? Welche Gedanken gingen ihnen durch den Kopf, und was war wohl ihre Lebensgeschichte? Diese Fragen stellte sich auch Dinah Wernli bei der Betrachtung des Ölgemäldes «Halbakt von vorn (Frau Grütter), 1907» vom Schweizer Maler Cuno Amiet. Es zeigt eine Frau mit abgewandtem Blick und entblösster Brust.
Das Leben einer Bäuerin um die Jahrhundertwende
Die in Messing geprägte Klammerbemerkung Amiets bildet den Ausgangspunkt der Graphic Novel «Louise», die im Herbst 2024 beim Zürcher Verlag Edition Moderne erschien. Wernli entschied sich nach mehreren Jahren als Kindergärtnerin und Primarlehrerin für eine Neuorientierung und begann ein Studium in Illustration an der Hochschule Luzern. Im Zuge einer Ausstellung traf sie schliesslich auf das Bild, das ihr Abschlussprojekt «Louise» ins Rollen bringen sollte. Beim Betrachten sah sie sich mit Fragen konfrontiert: Mit welchen Erwartungen, Ängsten und Träumen befasste sich die abgebildete Frau? Und was bedeutete die Begegnung mit Cuno Amiet für das Leben von Louise, die als Bäuerin in der lieblichen Gegend der Oberaargauer Buchsiberge lebte? Er, dieser Maler, der ein Wohnhaus im Jugendstil in der Nachbarschaft errichten liess, Frau Grütter als Bedienstete anstellte und sie fortan gelegentlich als Modell verwendete?
«Louise» ist eine Neuinterpretation von Cuno Amiets Louise, für Wernli «ein Gedankenspiel, basierend auf den wenigen mir damals bekannten Fakten über Louise Grütters Leben».
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Der Schatten Cuno Amiets, der keiner ist
Die Illustrationen zeigen eine malerische Verwandtschaft mit dem impressionistischen und teils frühexpressionistischen Stil Cuno Amiets. Besonders auffällig sind die leuchtenden, expressiven Farbkompositionen. Die Farbe übernimmt in der Bildsprache von Wernli eine autonome Rolle und steht als Ausdrucksmittel im Vordergrund. Mit kontrastreichen Flächen in vereinfachter Form entstehen Licht und Schatten. Die dicken Pinselstriche und die lebendige Struktur der Acrylfarbe vermitteln die kraftvolle und vitale Weiblichkeit der Bäuerin Louise, sparen aber auch ihre Verletzlichkeit nicht aus.
Dabei entstanden die Illustrationen auf ungewöhnlichem Material: Transparentfolien, wie sie früher in der Schule für Hellraumprojektoren genutzt wurden. Wernli benutzte pro Folie nur zwei Farben, scannte die Bilder ein und legte sie digital übereinander. Dadurch entstanden Überlagerungen und Vermischungen, die eine Tiefe erzeugen. Knapp gehaltene Satzfragmente begleiten die Illustrationen und kreieren eine poetische Stille, die das Spannungsfeld zwischen Muse und Bäuerin einfängt – von ihrer Kindheit, ihrer Arbeit und dem bäuerlichen Alltagsleben bis hin zur Bekanntschaft mit Cuno Amiet.
Obwohl Wernli sich von Amiets Werken inspirieren liess, entfaltet sie eine eigenständige Bildsprache, arbeitet mit anderen Materialien und Techniken – und allem voran stellt sie sich anderen Fragen als der Altmeister der modernen Schweizer Kunst.
Mögliche Geschichten des Modells
Für Wernli ist «Louise» kein «abgeschlossenes Werk, sondern vielmehr eine Brücke – zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Realität und Fiktion, zwischen dem, was war, und dem, was hätte sein können.» Dieses Aufbrechen der eingangs erwähnten Klammerbemerkung ist ein feministischer Ausbruch aus patriarchalen Strukturen und eine Würdigung all jener Frauen, die in der Kunstgeschichte oftmals nur Modell standen, ohne dass ihre Namen oder Geschichten Beachtung fanden. Die Graphic Novel «Louise» gibt diesen Frauen eine mögliche Geschichte fernab des männlichen Blicks.
Nebst der Aprillen-Reihe, bei der Dinah Wernli im gemeinsamen Gespräch mit der Historikerin Caroline Arni auftritt, setzt das Berner Lesefest vor allem auch Akzente auf die Osteuropäischen Literaturen, mit Schriftsteller*innen wie Saša Stanišić oder Yevgenia Belorusets.
// Schlachthaus Theater, Bibliothek Münstergasse, Bern. Mi., 9.4., bis Sa., 12.4.
- Dinah Wernli und Caroline Arni im Schlachthaus Theater: Sa., 12.4., 20.30 Uhr