Ihre Kunst geht durch den Körper
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Ihre Kunst geht durch den Körper

Kunst Ausstellungen & Kulturerbe Performance
Veröffentlicht am 19.02.2024
Susanne Leuenberger
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Die südafrikanische Performancekünstlerin Tracey Rose macht Kunst, die weder sie selbst noch das Publikum schont. Mit «Shooting Down Babylon» kommt die erste grosse Retrospektive mit gut 100 ihrer Arbeiten ins Kunstmuseum Bern. Die Schau bewegt sich durch Roses «Post-Apartheid-Playground». Diesen bespielt die Künstlerin mit der Lust und dem Schmerz der Übertreibung, Übertretung und Überschreitung. Damit nimmt sie es mit den Erfahrungen von Rassismus, Sexismus, Gewalt und Diskriminierung auf.

Kathleen Bühler, Chefkuratorin hier im Haus, benutzt das Wort «viszeral», wenn sie über die Medien- und Performancekunst von Tracey Rose spricht. Und das ist für einmal ganz buchstäblich gemeint: Die Wände des Kunstmuseums sind für die grosse Retrospektive in kräftigen, organischen Farben bestrichen.

Fleischrosa zum Beispiel, was suggeriert, dass wir uns hier in einer Gebärmutter befinden könnten. Oder im Innern eines Verdauungsapparats. So klar lässt sich dies nicht bestimmen. Aber Kunst kann und muss vielleicht sowieso beides gleichzeitig: einverleiben, verdauen, austragen, wachsen lassen, zerstückeln, zersetzen, ausscheiden, gebären. Ganz bestimmt tut sie das bei Tracey Rose. Die südafrikanische Künstlerin mit Jahrgang 1974, von der internationalen Kunstszene Mitte der 1990er-Jahre entdeckt, macht Kunst, die durch den Körper geht. Die einfährt, salopp gesagt. Und manchmal entfährt (dazu später, das ist mehr als ein Kalauer, versprochen). 

Die Organe sind ihre Instrumente, um ihre multimediale, oft situative Kunst zu machen, und die Kunst ist ihr Instrument, um die Situation psychisch und mental zu durchleben. Und manchmal zu überleben. Denn die Welt ist krass. Und so ist es die Werkschau mit den gut 100 gezeigten Arbeiten der Künstlerin, die zwischen 1990 und 2021 entstanden. 

Die Arbeit «Shooting Down Babylon» versammelt bereits vieles davon, was Tracey Roses Arbeiten ausmacht: Voller Körpereinsatz, Multimedialität, Wut, Lust an Übertreibung, Übertretung, Überschreitung, Ironie, vielleicht auch Sarkasmus, Hintersinn, Beschwörung, Anrufung, Wahnsinn, Trauer.

Ayahuasca gegen Trump 

Die Ausstellung empfängt denn auch gleich mit der titelgebenden Installation aus dem Jahr 2016 im Foyer. «Shooting Down Babylon», eine Videoskulptur aus mehreren Fernsehgeräten, die mit ihren Antennenseitenarmen selbst wie ein mythisches Wesen anmutet, trägt in ihrem Herzen vier Bildschirme. Zu sehen darin sind Mitschnitte von Tracey Rose bei einem Ayuhuasca-Ritual im Nachgang zum Wahlsieg des US-Präsidenten Donald Trump am 8. November 2016: ein Selbstversuch, ein Austreibungs- und Reinigungsritual.

Die Arbeit «Shooting Down Babylon» versammelt bereits vieles davon, was Tracey Roses Arbeiten ausmacht: voller Körpereinsatz, Multimedialität, Wut, Lust an Übertreibung, Übertretung, Überschreitung, Ironie, vielleicht auch Sarkasmus, Hintersinn, Beschwörung, Anrufung, Wahnsinn, Trauer. 

 

Schimmer des Regenbogens

Was das Ganze noch steigert: Im Hintergrund der Video-Austreibung im Endlos-Loop leuchtet vom anderen Ende des Raums ein doppelter Regenbogen von der Wand. 

Der Farbenakkord der Hoffnung am Ende der Apartheid 1994, als sich Südafrika zur Regenbogennation erklärte. Eine Gesellschaft, in der kulturelle Vielfalt, Versöhnung und Toleranz den Schatten von Kolonialismus, Rassismus und Chauvinismus vertreiben sollte. Was von diesem hoffnungsvollen Schimmer geblieben ist, und was von der Apartheid nachwirkt und weiter sein Unwesen treibt, darum dreht sich ein Grossteil der Kunst von Rose, die heute in Johannesburg lebt, und die in den 1980er-Jahren eine Mädchenschule besuchen durfte, wo sie die einzige «colored person» war – und den Systemwechsel am eigenen Leib erlebte.

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Was vom Traum der Regenbogennation blieb: «A Dream Deferred (Mandela Balls)», 13/95, verschiedene Materialien, 85 x 90 x 120 cm © Tracey Rose

«Eine Kunstkritikerin bezeichnet Roses Arbeit einmal als «Post-Apartheid-Playground», erklärt Kathleen Bühler. Ihre Arbeiten gehen jedoch darüber hinaus und fühlen ebenso der politischen Gegenwart, Sexismus, Gewalt und Diskriminierungserfahrungen allgemein nach. In den letzten Jahren wandte sich Rose vermehrt auch persönlicheren Erfahrungen und der Frage nach Heilung zu.    

 

10 Eier oder was vom Traum blieb

Kathleen Bühler holte die Ausstellung, die erste grosse Retrospektive von Tracey Rose nach Bern. Die kamerunische Kuratorin Koyo Kouoh, die unter anderem in der Schweiz aufwuchs und studierte, hatte sie bereits vor der Pandemie für das Zeitz Museum of Contemporary Art Africa (MOCAA) in Kapstadt konzipiert. Nach einer Station im Queens Museum in New York, wird «Shooting Down Babylon» nun auf die räumlichen Gegebenheiten des hiesigen Kunstmuseums in Bern reduziert und angepasst gezeigt.

Mit dabei sind Arbeiten, die eigens für die Ausstellung entstanden, wie Bühler, Co-Kuratorin der Berner Schau, erklärt. Es sind zehn Objekte der laufenden, 2013 begonnenen Serie «A Dream Deferred (Mandela Balls)», hergestellt aus verschiedensten Materialien. Mandelas Balls, zu Deutsch «Mandelas Eier». Bühler erklärt: «Tracey Rose fragt sich: Was ist vom Mut zum politischen Aufbruch geblieben?» 

«Sie ist eine Art Medium, Aufzeichnungsgerät, Beschwörerin.»
— Kathleen Bühler, Chefkuratorin des Kunstmuseums Bern

Medium, Aufzeichnungsgerät, Beschwörerin

Insgesamt 95 Objekte soll dieses Work-in-Progress dereinst umfassen, einige davon besitzt das Kunsthaus Zürich. Für jedes Lebensjahr des Friedensaktivisten und späteren Präsidenten Nelson Mandela, der 2013 verstarb, formt Rose eines. Die Künstlerin erarbeite sie, wie alles, was sie erschaffe, aus der Situation heraus. «Sie ist eine Art Medium, Aufzeichnungsgerät, Beschwörerin.» 

Videos, Skulpturen, Fotografien, Installationen und Zeichnungen dokumentieren Tracey Roses eruptive Kunst. Zu sehen ist auch ein Sammlungsstück, das seit 2001 im Besitz des Kunstmuseums Bern ist. Es ist die Videoarbeit « T.K.O. (Technical Knock-Out) »  aus dem Jahr 2000

«Tracey Rose betrieb das Boxen eine Weile fast professionell», erklärt Kathleen Bühler. Sie installierte vier Kameras um den Ring, drei davon funktionierten und zeichneten auf. Rose überlagerte und überblendete die Aufnahmen und zeigt sich selbst alleine im Ring und am Ringen. Aber gegen wen, ausser sich selbst? Sind es die Vergangenheit, die Geister, der Chauvinismus, Sexismus, Rassismus, die sie in sich selber trägt? Und aus welcher Richtung kommt die Gewalt? Tracey Rose scheut sich nicht vor Nahkampf. 

Es geht in dieser humorvollen Arbeit um kulturelle Aneignung, Einverleibung; und nicht nur, aber auch um metabolische Verwertungsketten, um afroamerikanische Erfindung und weissen Konsum, um weisse Postproduktion. Eine Furzidee, die es in sich hat.

Erdnussbutter und Wind 

«Shooting Down Babylon» ist keine gediegene Schau, sie verlangt einiges von der Besucherin ab. Oder von allen, die sich als «White Girl» lesen. Denn da ist die Installation «White Girl Fart Factory», entstanden 2015. Ein Topf mit Erdnussbutter der Marke «Black Cat», in Südafrika der Markenleader, prangt auf einem Podest. 

Das Mus aus Erdnüssen ist eigentlich ein US-Produkt, erfunden vom Afroamerikaner George Washington Carver, der als Sklave aufwuchs. Sein gezeichnetes Konterfei ist gerahmt im Hintergrund. Ein weiteres Podest: Darauf mit Erdnussbutter gebackene Kekse. Weisse Mädchen, «alle, die sich als solche identifizieren», sind aufgefordert, diese Keks-Hostie zu essen («wir werden im Museum viele Erdnusskekse backen», schmunzelt Kathleen Bühler) – und nach Verdauung in Erdnussbuttergläser zu furzen und den eingefangenen Wind ins Museum zurückzubringen. 

Es geht in dieser humorvollen Arbeit um kulturelle Aneignung, Einverleibung; und nicht nur, aber auch, um metabolische Verwertungsketten, um afroamerikanischer Erfindung und weissen Konsum, um weisse Postproduktion; die Furzidee ist vielleicht darüber hinaus auch ein Kommentar auf europäische Kunst- und Museumsbetriebe und ihren konsumierenden Blick auf nichteuropäische Künstler*innen. 

Ciao Bella

Dieser weisse Blick ist ganz bestimmt mit ein Thema in der triptychon-förmigen Montage «Ciao Bella» aus dem Jahr 2001. Auf Einladung von Harald Szeemann schuf Rose den Beitrag zur 49. Biennale von Venedig, dem «Plateau der Menschheit». Das seitlich gefaltete, grossformatige Fototableau zeigt 12 verschiedene Frauentypen, apostelgleich präsentiert. Jede einzelne Figur verkörpert Rose selbst. Darunter auch Sarah Baartman, wie die Künstlerin selbst Mitglied der südafrikanischen Ethnie der Khoikhoi. 

Baartman gelangte um 1810 nach Europa, wo sie von als schwarze Venus und lebende anatomische Attraktion ausgestellt wurde. Sie starb mit nur 26 Jahren in Paris. Französische Ärzte sezierten und konservierten daraufhin Teile ihres Körpers. Erst 2002 wurden ihre sterblichen Reste nach Südafrika zurückgeführt. Jahrelang hatte die französische Regierung sich Mandelas Forderung nach Rückgabe verweigert. Aus Angst, damit einen Präzedenzfall zu schaffen. 

 

Ans Schweizer Eingemachte rühren 

Es freue sie, mit «Shooting Down Babylon», in Kapstadt konzipiert, nach Bern gebracht, einem nichteuropäischen Blick auf Tracey Roses Kunst den Raum zu geben, meint Kathleen Bühler. Denn die Kunstszene müsse sich auch heute bewusst machen, wie weiss sie noch immer sei. «Dies ist unser Versuch, unser Haus einer anderen Sicht zu überlassen.» 

Nicht zuletzt hege sie auch die Hoffnung, meint Kathleen Bühler, mit «Shooting Down Babylon» ans Schweizer Eingemachte zu rühren, denn mit ihr verbinde Südafrika einiges. Ohne die unrühmliche Hilfe von Schweizer Aussenpolitik und Banken hätte sich die Apartheid wohl deutlich weniger lange halten können.

Tracey Rose hätte vermutlich nichts dagegen, mit der Berner Ausstellung eine weitere Geisterbeschwörung zu initiieren.

Artikel des/derselben Autor:in
Susanne Leuenberger
Susanne Leuenberger
Redaktionsleiterin

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