«Musik zeigt uns, was es bedeutet, Mensch zu sein»
Das Musikfestival Bern hat George E. Lewis als Composer in Residence eingeladen. Der afroamerikanische Komponist, Elektronikpionier und Musikwissenschaftler will die Neue Musik dekolonialisieren.
Seinen Durchbruch erreichte er als Posaunist. Experimentelle Installationen und Computermusik gehören aber genauso zu ihm wie Auftragswerke für die Oper. George E. Lewis unterrichtet an der Columbia Universy in New York und leitet das International Contemporary Ensemble (ICE). Seit vielen Jahren erhebt er seine Stimme für die Entkolonialisierung des zeitgenössischen Musikbetriebs – so kritisiert er etwa die Tatsache, dass selbst Musikfestivals, die sich als international verstehen, vorwiegend weisse Künstler*innen einladen und weisse Komponist*innen aufführen.
Mosaike anerkennen
Der 72-jährige New Yorker plädiert für eine «mentale Kreolisierung». Doch was bedeutet das? Er stütze sich dabei auf ein Modell der karibischen Theoretiker Édouard Glissant und Patrick Chamoiseau, erklärt Lewis im Gespräch. Vereinfacht gesagt, gehe es darum, dass viele, vielleicht alle Menschen eine sogenannte Mosaikidentität besitzen. Als Beispiel nennt er das Kind eines Franzosen und einer Haitianerin, das in China zur Welt kommt und dort auch lebt: «Diese bereits vorhandenen Vielfaltsidentitäten müssen in der klassischen Musik, aber auch in der Neuen Musik anerkannt werden.»
Damit das geschehe, brauche es in der Musikforschung, Festivalkuration oder im Musikjournalismus neue Expert*innen, ist Lewis überzeugt: «Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges, ist nicht der einzige Schwarze Komponist, der zu seiner Zeit aktiv war. Aber kaum ein anderer als der in Guadaloupe geborene Franzose ist der Musikszene bekannt. Auch, weil nur über ihn geschrieben wird.» Wer aber kenne den afro-europäischen Violinisten George Polgreen Bridgetower, den Mann, für den Beethoven die Kreutzer-Sonate schrieb? Oder den kubanischen Geiger und Komponisten José White Lafitte?

Ein Element der Dekolonialisierung der Neuen Musik sei, die Geschichte solcher Menschen ans Licht zu bringen und sie als Teil der eigenen zu begreifen. «Die Idee eines neuen Bewusstseins, der Schaffung einer ‹mentalen Kreolisierung›, besteht im Grunde darin, dass die Musik uns zeigt, was es bedeutet, Mensch zu sein», so Lewis. Am Musikfestival Bern spricht er über die Dekolonisierung der Musik.
Klavierspiel von Geisterhand
Aber auch musikalisch wird George E. Lewis zu hören sein. Kennzeichnend für das musikalische Schaffen des Komponisten dürfte das Konzert «Voyager» sein. Bereits 1987 stellte Lewis, ein Pionier der Computermusik, die gleichnamige Software vor: «Voyager» ist in der Lage, mit Musiker*innen klanglich zu interagieren und sich zu verselbständigen. Klaviertasten bewegen sich damit auch mal wie von Geisterhand.

Im Laufe der Zeit spielte das Programm mit Jazzgrössen wie Geri Allen, Aki Takase oder Muhal Richard Abrams. Und sie mit ihm. Am Musikfestival Bern improvisiert Magda Mayas mit «Voyager» in einer Performance für zwei Klaviere.
Über den Moment, in dem die Berliner Pianistin und die Software zum ersten Mal aufeinandertrafen, sagt Lewis: «Ich brachte eine neue, grossartige Spielerin in die Umgebung, und das System mochte sie offensichtlich sehr.» Bei solchen Aussagen wird klar, dass Lewis sich auch für die Beziehung zwischen Menschen und Technik interessiert.

Verbunden über das Wetter
Beziehungen stellt Lewis auch mit der Installation «Remains of the Sky» her, die er gemeinsam mit dem Musiker und Künstler Damon Holzborn entwickelte und die im Gewölbekeller des Schlachthauses zu erleben ist. Sie verwandelt meteorologische Daten aus Bern und anderen Städten der gleichen Zeitzone, darunter Khartum, Lusaka oder Maputo in Licht- und Tonsequenzen. 40 Minuten lang sitzen Besucher*innen auf kleinen Stühlen und denken vielleicht über den Klimawandel und Wettermuster nach. Oder, wie Lewis es ausdrückt, «darüber, was uns als Menschen zusammenbringt».

Die Orgel entdeckt
Zur Eröffnung des Musikfestival Bern spielen die Cellistin Imke Frank und der Posaunist Mike Svoboda Lewis' Solostücke «Spinner» (2016-2017) und «Oraculum» (2016). Sein Auftragswerk «Ein Teufel im Dom», das er für den Berner Organisten Daniel Glaus schrieb, komponierte er erstmals für eine winddynamische Orgel. Und war begeistert. Das Biegen der Noten, die seltsamen Windklänge, die Möglichkeiten der Improvisation, die normale Orgeln nicht offenstehen, sie haben es ihm angetan: «Es hat eine traditionelle westliche Tastatur, aber man kann damit so viele Dinge machen, die ich nicht erwartet hatte.»
Musikfestival Bern
Das fünftägige Musikfestival Bern steht in diesem Jahr unter dem Motto «Kompass». Das Programm reicht von Alter und Neuer Musik über improvisierte und elektronische Klänge bis hin zur experimentellen Oper«Ein Ermordeter aus Warschau». Das Musiktheaterhybrid des Berliner Autors Max Czollek und des Schweizer Komponisten Michael Wertmüller ist eine Überarbeitung und Überschreibung von Arnold Schönbergs erschütterndem Holocaust-Stück «A Survivor from Warsaw». Organisiert wird das Festival von Musiker*innen der freien Szene sowie von Berner Kulturveranstaltern und Institutionen.
// Diverse Orte, Bern
Mi., 4., bis So., 8.9.
- Eröffnungskonzert «Vorhang auf»: Schlachthaus Theater Bern. Mi., 4.9., 18 Uhr
- Installation «Remains of the Sky»: Gewölbekeller Schlachthaus Theater, Bern. Mi., 4., bis So., 8.9., diverse Uhrzeiten
- Vortrag George E. Lewis: «Decolonization of Contemporary Music»: Schlachthaus Theater, Bern. Do., 5.9.,15 Uhr
- «Ein Teufel im Dom»: Berner Münster. Fr., 6.9.,19 Uhr. Öffentliche Probe: Berner Münster. Do., 5.9., 11 Uhr. Anmeldung bis 3.9.
- «Voyager»: Schlachthaus Theater, Bern. Sa., 7.9., 23 Uhr
- «Ein Ermordeter aus Warschau»: Mi., 4.9., 20.30 Uhr. Schulvorstellung: Do., 5.9., 15 Uhr
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